chrismon: Sie beschäftigen sich beide häufig mit Männerrollen, der eine als Schauspieler, der andere seelsorgerlich. Gibt es eigentlich die Männerrolle?
Pater Anselm Grün: Es gibt nicht die Männerrolle. Aber es gibt natürlich Bilder: Es gibt den Vater als wichtigstes Bild, es gibt den König, es gibt den Krieger, den Händler; es gibt den Magier, der Ideen hat, der zaubern kann, es gibt den Pilger, der immer auf dem Weg ist, der nicht zur Ruhe kommt.
Peter Lohmeyer: Ich hab ja einen Beruf, in dem ich verschiedene Männerrollen ausprobieren kann; da kann ich wählen.
Lernt man eine Rolle am besten durch Vorbilder?
Lohmeyer: Vorbilder sind ganz schwierig für mich. Ich kann Respekt haben oder ich könnte jemandem, der einen Weg geht, bestimmt zeitweise auch folgen und dieses oder jenes daraus lernen. Aber Vorbild hat für mich immer etwas von Gleich-sein-Wollen. Und deshalb bin ich da immer vorsichtig.
Grün: Ich habe auch keine Vorbilder.
Lohmeyer: Aber die gibt’s doch in der Kirche bestimmt.
Grün: Ja schon, die Heiligen und so. Aber da ist auch die Gefahr, dass man sie idealisiert. Für mich sind es eher Begegnungen mit authentischen Männern, die mir geholfen haben, bei denen ich das Gefühl habe, die haben etwas an sich. Im Konvent hatten wir noch einige alte Mitbrüder, die mit 90 Jahren noch sehr offen waren; nicht im Sinne von „weise“ oder jenseits von allem, sondern die einfach noch gesucht haben, und das mit 90 Jahren. Die haben mich fasziniert.
Waren Ihre eigenen Väter für Sie Männer, zu denen Sie aufblicken konnten?
Lohmeyer: Mein Vater ist Pfarrer. Er kann frei reden auf der Kanzel. Das fand ich schon immer groß. Das erlebt man nicht so oft. Leider war ich als Kind noch nicht so weit, dass ich seine Geschichten wirklich verstanden hätte. Ein paar Sachen sind mir natürlich hängen geblieben. Aber dann in der Pubertät, habe ich mich gegen all das gewehrt. Eigentlich schade.
Grün: In meiner Familie haben wir unseren Vater nicht verherrlicht, aber im Nachhinein – er ist jetzt über 30 Jahre tot – merk ich schon, dass ich dankbar bin für die Art, wie er war. Er gab uns viel Freiheit und hatte großes Vertrauen, so dass wir oft allein Fahrten ins Gebirge machen durften mit dem Fahrrad – also Angst hatte er nie. Und ich denke, er war ein Mensch, der wirklich frei war. Er ist ohne Geld, ohne alles, einfach nach Bayern gezogen, weil er sich geärgert hat, dass er an katholischen Feiertagen im Ruhrgebiet arbeiten musste. Und er hat dann in den Zwanzigerjahren, als es ja auch nicht leicht war, ein Elektrogeschäft aufgemacht – das find ich schon mutig. Und er hatte Zeit für uns. Natürlich hat er auch viel gearbeitet, aber zu den Mahlzeiten war er immer da, und am Sonntag ist er mit uns spazieren gegangen. Unser Vater hat die Natur geliebt und uns dann Vorträge gehalten über die Natur, die Bäume und so. Er war da sehr geduldig, hat alles erklärt; er hat uns eingeführt in die Geheimnisse der Natur. Ein Gespür für Bäume, der Gesang der Vögel, die Sterne, das war seine Welt, in die er uns eingeführt hat. Die hat er erklärt. Nur eine Schattenseite hatte er: Auf die Idee, dass wir Geld gebraucht hätten, kam er nicht. Das mussten wir anders organisieren.
Lohmeyer: Ich beneide Sie da schon etwas. Ich hab meinen Vater vermisst, weil er so oft weg war. Mein Vater hat sich leider nicht die Zeit für die Auseinandersetzung mit den Kindern genommen – weil er sie nicht hatte. Seine Energien flossen in sein großes Engagement in der Diakonie oder der Gemeinde. Was ich heute noch bewundere. Was manche Väter aber nicht einsehen: dass man das so schwer nachholen kann. Kinder sind ja so schnell aus dem Haus.
Mit welchen Anliegen sind Sie zu Ihren Vätern gegangen?
Lohmeyer: Meistens war es eine materielle Geschichte, dass ich dann doch noch eine Mark brauchte. Aber die wirklichen Geschichten, die erste Freundin oder was passiert mit mir körperlich oder solche Geschichten – nee. Aber das ist vielleicht auch eine Generationsfrage. Und ich denke mir, da sind noch viele Fragen offen, das berühmte Vater-Sohn-Gespräch. Und dann muss ich mich auch an die eigene Nase fassen und sagen: Nimm dir mehr Zeit dafür! Ich mein, so hoppgalopp fällt der Dialog ja nicht vom Himmel. Wir können noch viel voneinander lernen. Es hängt vielleicht auch damit zusammen, dass mein Vater Pfarrer ist, der eigene Vater, der auf der Kanzel steht, dem viele Leute zuhören, vielleicht war das manchmal für mich noch ein Schritt schwerer gewesen, weil er der Vater für so viele war. Worauf ich andererseits auch wieder stolz war.
Pater Anselm Grün: „Kinder erleben den Vater in seiner Wahrheit“
Grün: Ja, tiefe Gespräche hatten wir auch nicht. Als es bei mir um den Eintritt in den Orden ging, da hab ich schon mit meinem Vater gesprochen. Ich hab ihn nicht um Rat gefragt, aber doch meine Pläne mit ihm diskutiert.
Lohmeyer: Und er hat Ja gesagt.
Grün: Er war stolz drauf.
Lohmeyer: Ach, toll!
Grün: Das war keine Frage für ihn.
Lohmeyer: Hat er denn gesagt, dass er stolz war?
Grün: Das hat er gezeigt.
Lohmeyer: Das hat er gezeigt! Das tun sie ja nicht oft, diese Väter. Ich versuch’s. Das hab ich auch gelernt. Wenn ich an meinen Vater so denk, gerade diese Stolzfrage. Ich hab ja einen Beruf, wo er das eigentlich sehr leicht mal ausdrücken könnte. Wenn ich in einer Theateraufführung bin, wenn er im Fernsehen oder Kino einen Film mit mir sieht, aber das hat so lange gedauert – ich krieg ja meine Beweihräucherung durch Freunde und so weiter, das geht auch ganz gut. Aber dann denkt man natürlich: Warum war das nicht früher vom Vater schon da? Oder habe ich das alles vergessen? So habe ich über meine Mutter erfahren, dass er stolz sei, als er mich zum ersten Mal in einem Hörspiel im Radio gehört hatte. Ich bin auf zwei Schauspielschulen aufgenommen worden. Da wollen Tausende hin, und mich haben sie gleich auf zweien genommen. Da kann man doch mal sagen: Toll! Aber da kommt dann gleich: Wie lang dauert diese Ausbildung, was kostet sie mich? (Lacht.) Ich war der Günstigste – nach zweieinhalb Jahren war ich am Theater! So schnell schafft das keiner!
Wann hat er denn nun zum ersten Mal gesagt: Ich bin stolz auf dich, Peter?
Lohmeyer: Ich denke, ich habe ihm den Stolz schon manches Mal angesehen. Dass er es wirklich rauslassen konnte, war wohl erst beim „Wunder von Bern“. Da war ich schon über 40. Vielleicht tu ich ihm Unrecht. Vielleicht sind wir Kinder da auch zu vergesslich. Andererseits weiß ich, dass ich das vermisst habe, womit er sich jetzt leichter tut – diese Freude zu zeigen über meine Arbeit, wie neulich bei einer Kinopremiere in Essen.
Wie sieht denn der ideale Vater aus?
Grün: Ich bin immer skeptisch bei Idealen. Jeder muss mit seiner Person Vater sein. Aber das Väterliche, überhaupt den Mut, Vater zu sein, einer zu sein, der Verantwortung übernimmt, der den Kopf hinhält, der da ist und sich auf Konflikte einlässt– all das ist wichtig. Ich erlebe zum Beispiel bei Führungskräften, dass sie sich in der Firma leichter tun als in ihrer Vaterrolle. Denn als Väter werden sie infrage gestellt, da werden sie nicht bewundert. Man kann aber nicht immer vom Erfolg leben, die Kinder auch nicht, die wollen den Vater, den Menschen spüren und sich da einfach einlassen auf Auseinandersetzungen, sich infrage stellen lassen. All das ist für mich wichtig, aber das muss jeder auf seine Weise tun, da gibt es nicht den idealen Vater.
Lohmeyer: Das Wichtigste ist, dass man als Vater Verantwortung übernimmt, dass man dazu steht, wie die eigene Geschichte verlaufen ist. Ich habe vier Kinder, von denen eines in Berlin lebt. Dem versuche ich, so gut es geht, auch ein Vater zu sein. Wenn man sich dieser Verantwortung stellt, dass man sagt, das ist mein Kind, auch wenn ich mit diesem Kind nicht zusammenlebe, das ist aber da, dann bedeutet das ganz viel Arbeit. Aber das ist nun mal so. Und das kann man nicht irgendwie wegdrücken, und man kann auch nicht hoffen, dass man später etwas dafür zurückkriegt. Das kommt von ganz allein oder gar nicht. Besonders intensiv erleb ich das, wenn ich mit allen Kindern allein in den Urlaub fahre. Da gibt es dann keine anderen Götter neben mir.
Peter Lohmeyer: „Das ist das Stärkste, was ich durch meine Kinder erfahren habe: das Real-Sein“
Pater Anselm, Sie haben mal den Satz geschrieben: „Niemand vermag wirklich Vater zu werden, der nicht mit sich und seinen Schattenseiten gekämpft hat.“
Grün: Die Kinder decken ja auch manchmal die Schattenseiten auf. Manchmal gibt das Ärger, weil der Vater diszipliniert ist und die Kinder undiszipliniert, oder umgekehrt, wenn die Kinder auf einmal viel konservativer sind als die Väter. Die decken einfach das auf, was ich selber nicht lebe. Manche Väter reiben sich dann an ihren Kindern oder wollen ihre Kinder in ihre Richtung zwängen und sind nicht bereit, in den Spiegel zu schauen, den die Kinder ihnen anbieten. Man kriegt meistens die Kinder, die man braucht, um sich selbst zu erkennen. Da darf man nicht meinen, das eigene Bild sei das richtige. Denn dann bin ich nicht bereit, mir die Schattenseiten anzuschauen. Das ist beim Führen genauso. Wenn einer nicht sich selbst erkennt, dann kann er noch so viel lernen über Führung. Sein Unbewusstes wird das Gegenteil ausstrahlen. Ich habe vielleicht gelernt, freundlich zu sein, aber unbewusst geht von mir Menschenverachtung aus. Und das merken die Leute. Und den Kindern kann der Vater nichts vorspielen. Die erleben den Vater in seiner Wahrheit, und es ist wichtig, dass sich Väter dieser Wahrheit stellen und daran wachsen.
Lohmeyer: Also ich finde, das ist eigentlich das Stärkste, was ich durch meine Kinder erfahren habe: das Real-Sein. Der Moment, die Geburt meines Sohnes, war eine völlige Relativierung meines Berufes. Spätestens da habe ich gemerkt, dass ich mit dem Job nicht verheiratet bin.
Ein Zitat aus Ihrem Buch über Männer, Pater Anselm: „Die Erfahrung zeigt, wie wenig junge Männer sich heute zutrauen. Sie sollen gegenüber Frauen immer lieb und nett sein und vergessen so, dass sie Männer sind. Sie trauen sich nicht zuzupacken, für sich zu kämpfen, Führung zu übernehmen. Sie spüren, dass ihnen etwas fehlt.“ Was fehlt ihnen denn, den jungen Männern?
Grün: Ich hab neulich einen Kurs für Männer gehalten. Da hatten wir eine Vorstellungsrunde, in der jeder ein Symbol aussuchen sollte: ein Schwert oder eine Rose. Die meisten haben die Rose genommen. Im Gespräch habe ich nachher festgestellt: Viele Männer trauen sich nicht, in einer Auseinandersetzung mit ihrer Frau zu kämpfen, weil sie sofort Angst haben, sie erfüllten das Klischee vom Rechthaber, vom Macho. Deshalb lieber die Rose. Was fehlt, ist beides: kämpfen und lieben. Manche Frauen sagen mir das auch ganz offen – eine hat erzählt, sie habe große Probleme mit ihrem Mann. Warum, fragte ich sie, versteht er dich nicht? Sie: Doch, viel zu viel. Der versteht immer nur, aber sie suche jemanden, der auch etwas dagegensetzt, der eine Klarheit hat, wo sie sich reiben kann. Warum es fehlt, weiß ich nicht. Nach meiner Erfahrung ist es die Angst davor, in die Schublade gesteckt zu werden. Die alte Rolle, die man nicht mehr haben will, und die neue, die noch nicht so ganz klar ist.
Lohmeyer: Kenn ich. Ein Beispiel vom Tanzen. Ich tanze unheimlich gerne. In Deutschland können nicht viele Männer führen. Darunter leiden die Frauen, und man merkt es, wenn man mit den Frauen tanzt, weil sie sich nur ganz schwer führen lassen. Weil sie es nicht kennen. Das heißt, wenn ich mit einer Frau tanze, muss ich ihr erst mal klar machen – ob mit bestimmten Griffen oder Druck oder auch verbal –, dass ich jetzt führe. Und es ist das Schönste der Welt, wenn eine Frau sich beim Tanzen von einem Mann führen lässt. Für beide.
Pater Anselm Grün: „Töchter und Söhne brauchen die Vaterenergie“
Ist Führung denn notwendigerweise etwas Männliches?
Grün: Frauen führen anders. Ich denke, es ist wichtig, dass Frauen Männer nicht kopieren. Sonst sind sie wie Margret Thatcher, die hat eigentlich Männer kopiert, hat männlich und nicht weiblich geführt.
Was heißt „weiblich führen“?
Grün: Der Mann führt, indem er etwas schafft, die Frau führt, indem sie Beziehungen kultiviert, so dass die Beziehungen fruchtbar werden, dass Leute Lust haben, miteinander etwas zu tun. Die Grenzen sind fließend. Führen heißt Leben wecken in Menschen. Wenn ich von Vater und Mutter ausgehe: Die Mutter gibt ja dem Kind eine Art Urvertrauen, Geborgenheit, dass das Kind sich willkommen fühlt auf der Welt. Der Vater ist der, der Mut macht, aus der Familie herauszugehen, etwas Neues zu entdecken, Risiken einzugehen, das Leben zu erobern. Man hat ja auch psychologisch festgestellt, dass, wenn diese Vaterqualität nicht vorhanden ist, das Rückgrat für Kinder fehlt. Dann gibt es immer Autoritätsprobleme, immer dieses Grundmisstrauen gegenüber anderen. Und man tut sich schwer, sich mit der Welt zu arrangieren. Töchter und Söhne brauchen die Vaterenergie, um auch aus der Symbiose mit der Mutter herauszukommen, um ihre eigene Identität zu entwickeln.
Vielen Männern ist Glaube, Religion, Spiritualität zu weich, zu lieb, zu nett, zu sanft. Warum ist das so?
Grün: Gut, dem Christentum, vor allem der katholischen Kirche, wirft man zwar vor, eine Männerkirche zu sein. Aber in Wirklichkeit ist die Spiritualität der Kirche eher weiblich. Aber das war nicht immer so. Es hat da einen großen Wandel gegeben: Als ich Mönch geworden bin, sind mehr die aggressiven Typen ins Kloster gegangen, die die Welt verändern wollten, die 68er-Generation. Und so war es auch im frühen Mönchtum: Die wollten kämpfen mit sich, Lust haben am Kämpfen. Diesen Idealen sind ganz viele Männer nachgegangen. Und heute verbindet man mit Religion mehr eine eher depressive Energie, also dieses Seine-Ruhe-Finden, Seinen-inneren-Frieden-mit- sich-Finden, Geborgen-Sein. Das ist ja auch alles legitim, das darf es ja auch sein. Aber wenn es das Einzige ist, dann spricht es die Männer nicht mehr an. Männer müssen ja aus dem Nest raus, wollen kämpfen, wollen die Welt erobern. Auch die religiöse Sprache ist vielen Männern zu nett, zu lieblich.
Und Gott Vater, ist das für Sie eine Person, die beides, Weiblichkeit und Männlichkeit, vereint?
Grün: So, wie es auch in der Bibel steht, ist Gott Vater und Mutter zugleich. Manchmal ist mehr das Mütterliche für mich da, manchmal mehr der Vater, der mir den Rücken stärkt. Da ist das Vaterunser durchaus ein wichtiges Gebet für mich.
Sie könnten sich auch vorstellen, „unsere Mutter im Himmel“ zu sagen?
Grün: Ich kann das zwar auch sagen, beim „Vater“ klingt aber für mich beides mit. Da bin ich dann eher konservativ. Das andere legt zu sehr fest, dann teile ich wieder auf in Mann und Frau, während Vater – bei „Vater unser“ denk ich nicht an den Vater, sondern da ist dies auch zum Symbol geworden, das größer ist als Mann und Frau.
Lohmeyer: Für mich ist das „Vater“ im „Vaterunser“ auch nie männlich bestimmt gewesen. Das hab ich mir eh nie vorstellen können: so einer mit weißem Bart oder mit wallenden Gewändern? Da hab ich gedacht, da betuppen die mich doch, das stimmt doch gar nicht. Gott – das muss ja dann doch was Größeres sein.