Hummer, Sand und Sterne
Willkommen im Land der biblischen Urväter! Im Sinai lief Abraham den Fremden vom Zelt aus entgegen. Heute empfangen seine Nachfahren ihre Gäste auf der Veranda. Eine Reise in die Welt der Beduinen, in der trotz Geländewagen und fester Häuser die Zeit Abrahams wieder lebendig wird
Portrait Burkhard Weitz, verantwortlicher Redakteur für chrismon plusLena Uphoff
07.10.2010

Vor dem Flughafengebäude steht ein Ägypter und rudert heftig mit den Armen. "Taxi?", ruft er dem Reisenden zu, der aus der Empfangshalle ins Freie tritt, und zerrt an seinem Gepäck. Ein schmächtiger Beduine mit rot-weiß kariertem Tuch auf dem Kopf nähert sich. Er macht eine wegwerfende Handbewegung und zieht mit dem Fremden davon. Der Ägypter schimpft.

Der Beduine heißt Gomaa Salim Gomaa Hamdan, genannt Dschamma. Er ist Spross einer angesehenen Familie. Sein Vater war ein berühmter Stammesführer, Scheich Salim. Sein Bruder ist der heutige Scheich. Dschamma selbst verdient seinen Lebensunterhalt als Grundbesitzer und Fremdenführer.

Der Flughafen Sharm el-Sheikh ist das Tor zum Sinai. Italienische und russische Pauschaltouristen ziehen hier zu Zehntausenden durch, um sich am Roten Meer zu sonnen und in den bunten Korallenriffs zu schnorcheln. Griechische und zypriotische Pilger streben von hier weiter ins griechisch-orthodoxe Katharinenkloster am Berg Sinai, wo das biblische Israel seine Gebote entgegennahm.

Doch dieser Reisende sucht etwas anderes. Er kommt ohne Taucheranzug und Pilgergewand. Stattdessen will er sich von den Ureinwohnern dieser Gegend das Wüstenleben zeigen lassen. Er will wissen: Was ist dran an den Mythen, welche sich um die Beduinen ranken? Gastfreundlich sollen sie sein, aber auch die Nachfahren wilder Wüstenräuber. In seinen Abenteuerromanen beschreibt Karl May die Beduinen als raubeinigen, geheimnisvollen Menschenschlag. Und der amerikanische Star-Regisseur George Lucas lässt im Science-Fiction-Epos "Krieg der Sterne" Wüstenbewohner die Vorposten der Zivilisation niedermachen. Geschichten wie diese prägen unser Bild von den unheimlichen, archaischen Nomaden, die aus dem Nichts auftauchen und im Nichts wieder verschwinden, weil sie sich als Einzige in der lebensfeindlichen Welt der Wüste zurechtfinden.

Zu Zeiten von Dschammas Ur-Ur-Urgroßvater waren viele Beduinen Wegelagerer

Und dann ist da natürlich noch Abraham, der gottesfürchtige Hirte aus dem Alten Testament. Auf der Suche nach Weidegründen durchzieht er mit mehreren Zelten und Herden das Land. Abraham, ein an Schafen, Ziegen und Kamelen reicher Mann, wortkarg und gehorsam. Abraham, der seinen Sohn Isaak zu opfern bereit ist. Der Gott so bedingungslos folgt, dass wir heute noch verzweifeln an dieser Geradlinigkeit, die aus moderner Sicht auch etwas Brutales hat. Wie sollen wir diesen Nomaden bloß verstehen? An Abraham beißen wir uns bis heute die Zähne aus.

"Welcome", sagt Dschamma leise. Zu Zeiten seines Ur-Ur-Urgroßvaters waren viele Beduinen tatsächlich noch Wegelagerer. Sie überfielen Karawanen oder Mekka-Pilger. Inzwischen leben sie vom Tourismus, so wie Dschamma. Gemeinsam lassen wir die letzten Vorposten der modernen Zivilisation hinter uns. Vor uns schlängelt sich ein graues Asphaltband, durch Geröllhalden und Sandverwehungen, vorbei an roten, gelben, grünen Granitfelsen. Schwarzes Lavagestein zieht sich in Streifen quer über die Bergkämme. Eine fantastische Landschaft!

Im Dunkeln erreicht der Kleinbus das Beduinendorf Dahab am Ufer des Golfes von Aqabah. Anfang der achtziger Jahre war Dhahab ein Geheimtipp für Rucksacktouristen. Inzwischen führt eine gepflasterte Promenade entlang der Bucht. Restaurants und Souvenirläden bilden ein buntes Lichtermeer. Unvorstellbar, dass man am Morgen vom kühlen Flughafen Berlin-Tegel aus gestartet ist. Man liegt unterm Palmdach auf Flickenteppichen, ein warmer Wind weht vom Meer her und ans Korallenriff rauschen die Wellen.

Nach Sonnenaufgang am nächsten Tag. Der warme Wind bläst noch immer vom Meer landaufwärts. Dort erstrahlt ein goldgelber Gebirgszug. Durch die klare Luft sieht man jede Mulde, die der Winterregen in die Hänge grub. Dunkle Schatten markieren die Zacken der Felsen. Dahab ist das arabische Wort für Gold, das passt zur Morgenstimmung. Noch ist die Promenade menschenleer. Weiter oben am Strand schlafen Beduinen in Wolldecken. Sie ziehen den offenen Strand ihren Häusern vor.

"Das Kamel ist alt, ich will es nicht."

Seit Israel den Sinai im Sechstagekrieg 1967 eroberte, sind die meisten Beduinen sesshaft geworden. Auch als die Ägypter den Sinai im Friedensvertrag von 1979 wieder zurückbekamen, setzten sie die Ansiedlungspolitik fort. Heute ziehen nur noch ein paar Tausend Beduinen ganzjährig mit Zelten durch die Wüste, die Städte bieten bessere Verdienstmöglichkeiten. Doch auch sesshafte Beduinen halten an vielen alten Bräuchen aus der Wüste fest.

Besuch bei Dschamma. Sein Haus ist innen aufgeteilt wie das Zelt Abrahams, als der in Mamre Gäste empfing, ihnen zur Begrüßung entgegenlief und sie im Vorzelt bewirtete. Hinter einer Zeltwand hat Sara dem Gespräch der Männer gelauscht ­ so wird es im 1. Buch Mose 18 beschrieben. Im biblischen Zelt wie im Haus von Dschamma versperrt ein Sichtschutz den Blick auf den Privatbereich. Durch Löcher in der Mauer sieht man verschleierte Frauen Wäsche schrubben.

Dschamma bittet den Gast in die mit Teppichen ausgelegte Veranda. Sofapolster liegen auf dem Boden. Männer bieten Gläschen mit süßem Tee an, dazu Honigmelonen. Wohnung und Hinterhof dürfen Fremde nicht betreten.

Wie ein Romantiker schwärmt Dschamma von der Wüste. An die Metropole Kairo, wo er Informatik studiert hat, hat er sich nie gewöhnen können. Seine Wohnung habe er tagsüber nur für Seminare verlassen, erzählt Dschamma: "Erst ab ein Uhr nachts, wenn die Straßen leer waren, bin ich draußen spazieren gegangen." Das Leben in der Wüste sei besser als das in der Stadt: das Wasser sauberer, die Natur stiller, es gebe keine Fliegen und Mücken, man trinke die gute Ziegenmilch und werde seltener krank. á

Drei Tage verköstigt ein Beduine fremde Gäste in der Wüste, ohne Fragen zu stellen. Das gebietet die Tradition. Auch der Empfang auf Dschammas Veranda zieht sich hin. Man tauscht Höflichkeiten aus und trinkt Tee. Männer in langen Gewändern kommen und gehen. Einer will sein Dromedar verkaufen. Dschamma sieht das Tier aus der Ferne und lacht: "Das Kamel ist alt", sagt er, "ich will es nicht." Auch wenn Beduinen mit Pick-ups durch die Wüste fahren, ist ihre Liebe zu den Kamelen noch nicht erloschen.

Verslumung auf Ägyptisch

Träge ist das Leben um die heiße Mittagszeit. Die Straßen sind leer. Einige Kinder spielen barfuß zwischen den Betonwänden der Häuser mit den Satellitenschüsseln. Der Sand ist mit Ziegenkot übersät. An einer Straßenecke stehen Dromedare. Die Kinder schießen Fußbälle durch ihre Beine. Ein vierjähriger Junge zerrt ein Dromedar an der Leine, es folgt ihm willig durch den Sand. So ähnlich wird auch der biblische Isaak seine Kindheit verbracht haben.

Zottelige Ziegen mit prallen Eutern kauen Papier und andere Abfälle. Ungeschnittene Nägel an ihren Hufen rollen sich auf. In der Wüste müssten die Frauen die Ziegen kämmen, melken und ihnen die Fußnägel schneiden, heißt es. Doch in der Stadt würden viele Frauen faul, sähen sich ägyptische TV-Soaps an und vernachlässigten die Ziegen: Verslumung auf Ägyptisch. Nur das Alkoholverbot verhindere größere Verelendung. Wie die Beduinenfrauen selbst darüber denken, erfährt man leider nicht.

Am späten Nachmittag organisiert Dschamma einen Ausflug in die Wüste. Er hat ein Tagesvisum besorgt. Doch der ägyptische Polizist am Ortsausgang blickt misstrauisch in die Papiere und verschwindet damit im Wärterhäuschen. "Alles in Ordnung", sagt Dschamma und lächelt verlegen, "gleich geht's weiter."

Auch wegen der eingeschränkten Bewegungsfreiheit geben viele Beduinen das Nomadenleben auf. Im Norden versperrt die Grenze nach Israel den Weg durch die Wüste. Besuche bei entfernten Verwandten in Jordanien oder Saudi-Arabien sind für einfache Ziegenhirten unerschwinglich geworden.

Straßensperren dienen der Sicherheit für Touristen. Und sie sollen den Drogenschmuggel eindämmen. Er habe nichts gegen die Sperren, sagt Dschamma. Ihn störe nur die Art der ägyptischen Polizisten. "Ägypter sind so", sagt Dschamma und macht eine schlängelnde Handbewegung. "Beduinen sind so", seine Hand schneidet gerade durch die Luft. Er will sagen, dass viele Ägypter verschlagen und falsch seien, Beduinen aber geradeheraus.

"Bei uns im Dorf hat eine Kuh fünf Beine"

Am Straßenrand hat eine Beduinenfamilie ihre Zelte aufgeschlagen. Ziegen grasen im Geröll. Ein Mädchen mit rosa Kleid und türkisfarbenem Kopftuch läuft auf den Kleinbus zu. Kamele stupsen neugierig die Eintreffenden an. Frauen werfen verstohlene Blicke herüber. Teepause bei Dschammas Verwandtschaft.

Eine alte Frau mit blauen Tätowierungen im Gesicht setzt sich auf den Rand des Teppichs und breitet Schmuck aus: blauen Eilatstein, Skarabäen an Lederbändern, bunte Plastikperlen auf Nylonfäden. Man würde die Frau gerne über ihr Leben hinterm Schleier befragen. Doch die Männer dulden sie bloß. Sie darf sich mit dem Schmuck was dazuverdienen, mehr nicht.

Der Kleinbus holpert weiter durch die Wüste. Schließlich hält er in einer geschützten Mulde. Einige Jungen verschwinden in der Ödnis und kommen mit Feuerholz wieder. Die Sonne taucht hinter den Bergen unter. Im Tal flimmern die Lichter von Dahab. Die Stimmen der Beduinen verlieren sich im Nichts. Der Sand schluckt sie, der seichte Wind trägt sie davon. Es ist totenstill. Ab und zu hört man das Knirschen des Sandes.

In der Glut des Lagerfeuers liegt Brotteig. Die Beduinen wenden ihn mit bloßen Händen. Nach dem Essen kreist ein Joint. Zeit für kuriose Geschichten. "Scheich At-Tor hat einen Körper und einen Kopf wie ein Fisch. Wirklich!", sagt der Beduine mit großen Augen, "keine Beine, keine Arme. Er ist 48 Zentimeter groß und 55 Jahre alt. Er ist angesehen, man nennt ihn Scheich." ­ "Er hat einen genetischen Defekt", mischt sich ein anderer ein, "die Leute glauben, dass es böser Zauber sei." ­ "Leute aus Ägypten haben Scheich At-Tor gestohlen", sagt ein Dritter erregt, "und ihn in Ägypten vor eine Moschee gestellt. Er sollte Mitleid erregen und Bettelgeld einnehmen." ­ "Es gibt unglaubliche Dinge", sagt noch einer: "Bei uns im Dorf hat eine Kuh fünf Beine. Die Leute sehen sich die Kuh an. Der Besitzer nimmt Geld dafür." Die Beduinen lachen.

Salamas Vetter wurde für den Rachemord ausersehen

Früh am nächsten Morgen steht Salama am Strand und enttakelt eine Schnorchelausrüstung. Salama hat als Beduine in Kairo Jura studiert. Weil ihm die Verbindungen in die höhere Gesellschaft fehlten, konnte er nicht Anwalt werden, sagt er. Nun jobbt er im Hotel und verleiht Flossen und Taucherbrillen an Touristen, die am Korallenriff schnorcheln. Salama ist frommer Muslim. "Das Leben ist wie eine Prüfung", meint er. "Wer hart arbeitet, macht einen guten Abschluss. Die anderen wird Allah bestrafen." Salama arbeitet hart. Nicht nur wegen seiner Frau und seinen beiden Kindern. Oft geht er zu Versammlungen, wo weise Männer zu Gericht sitzen. Mit seinem Jurastudium und mit etwas mehr Lebenserfahrung wird er später vielleicht selbst als weise gelten.

Salamas Familie war kürzlich in einen Rechtsstreit verwickelt. Sein Onkel wurde erstochen, als er einen Streit schlichten wollte. Salamas Familie bekam ein hohes Blutgeld zugesprochen, das die Familie des Mörders rechtzeitig bezahlte. Aber der Familienrat beschloss, das Blutgeld zurückzugeben. Salamas Vetter wurde für den Rachemord ausersehen. Er stach zu.

Solange Beduinen ihre Streitigkeiten selbst regeln, lässt sie der ägyptische Staat gewähren. Scheitern die Scheichs, greift der Staat ein. Die ägyptische Polizei verhaftete den Rachemörder. Sein Vetter wisse, warum er den Mord am Onkel gesühnt habe, erzählt Salama stolz: "Um das Ansehen der Familie wiederherzustellen." Dafür nahm der 20-Jährige viele Jahre Gefängnis auf sich.

Plötzlich ist sie wieder da: die Welt Abrahams, Isaaks und Jakobs. Schweigend nimmt Abraham den Befehl entgegen, seinen geliebten Sohn Isaak zu opfern. Wenig erfährt man über Abrahams inneren Kampf. Es scheint, als müsse der Einzelne alles mit sich allein ausmachen. Ob Salama und sein Vetter mit sich im Reinen sind? Hadern sie wirklich nie mit ihrem Schicksal?

Dann wird Haschisch geraucht. Die Sterne wirken sehr nah. Deutschland ist weit weg.

Empfang in Scheich Touelas Ratsstube. An den Wänden hängen Scheichporträts. Männer in langen Gewändern sitzen barfuß vor einer Fototapete mit einem Wasserfall. Gestern haben sie einen Kamelraub verhandelt. "Wer einen Mord begeht", erklärt Dschamma, "muss zum Scheich, bevor die Familie des Opfers zurückschlägt." Greift der Scheich in die Fehde ein, ist die Blutrache ausgesetzt. Wer sich nicht daran hält, verliert den Anspruch auf Blutgeld.

Bei der Ratsversammlung halten die Fürsprecher lange Reden. Eine Debatte dauert viele Stunden, Tage oder auch Monate. Der Scheich und die alten, erfahrenen Stammesangehörigen hören geduldig zu. Haben alle ausgeredet, zieht sich der Scheich mit seinen Beratern zurück. "Vor manchen Entscheidungen schlafe ich schlecht", sagt Touela. "Ist die Entscheidung gefallen, liegt sie in Allahs Hand."

Am Abend ist Scheich Touela der Gastgeber. Ein Beduine hat Hummer gefangen und zubereitet. Nun lagern wir am Strand. Scheich Touela bricht die Hummerschalen auf und verteilt das Fleisch mit der Hand. Dann wird Haschisch geraucht. Die Sterne wirken sehr nah. Deutschland ist weit weg. Die Luft ist warm. Das Meer rauscht. Und die Beduinen erzählen Geschichten.

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