Die Revolution der Pastoren
Lena Uphoff
Tim Wegner
07.10.2010

chrismon: Herr Meckel, konnten Sie sich vorstellen, dass die DDR jemals aufhören würde zu existieren?

Markus Meckel: Daran dachten wir damals noch nicht. Es ging um Freiheit, als sich in den frühen achtziger Jahren die Friedensgruppen gründeten. Im Februar 1983 trafen sich die ersten Basisgruppen unter dem Motto "Konkret für den Frieden". Man lernte andere kennen, sammelte Telefonnummern. Durch Michail Gorbatschow bekamen wir neue Perspektiven. Ich hatte ungefähr ab 1987 den Eindruck, dass Gorbatschow nicht die Panzer rollen lassen würde. Die Frage der Einheit beschäftigte uns nicht, das schien zu unrealistisch im geteilten Europa.

Wer die heilige Kuh SED in Frage stellte, konnte juristisch belangt werden

Rainer Eppelmann: Wir wollten die DDR offener und menschenfreundlicher machen. Ich hatte mir verboten, weiterzudenken. Ich wusste nicht, warum über 300 000 sowjetische Soldaten die DDR verlassen sollten, wo es sie wahnsinnig viel gekostet hatte, bis an die Elbe zu kommen. Alles, was wir taten, war ein Bemühen um die Menschen in unseren Gemeinden. Dieses Tun wurde immer politischer. Zum Beispiel 1982, als ich mit Robert Havemann den Berliner Appell veröffentlichte. Darin forderten wir, verbunden mit einer Unterschriftensammlung, eine regierungsunabhängige Friedensbewegung. Der Qualitätssprung kam, als wir später sagten: Wir müssen politische Alternativen gründen, um den ewigen Machtanspruch der SED infrage zu stellen. Wir waren so vorsichtig, das zunächst nicht Partei zu nennen. Wer die heilige Kuh SED in Frage stellte, konnte juristisch belangt werden.

Meckel: Das Problem war, dass es keine Tradition der Opposition gab. Wer politisch unter Druck geriet, ging bis 1961 in den Westen oder wurde - nach dem Mauerbau - freigekauft. Anders als die Polen, Tschechen, Slowaken und Ungarn litten wir unter einem ständigen Abfluss an kritischen Denkern. Dann wurde die Friedensfrage durch die Nachrüstung brisant, so dass sich die Gruppen vernetzten. Der Friedenkreis in meinem Dorf Vipperow in Mecklenburg fing ganz banal an: Mich fragte ein Bekannter, was man gegen die Raketen machen könnte. Weil sich das nicht im Vorbeigehen klären ließ, verabredeten wir uns. Auf einmal saßen 20 Leute in meinem Wohnzimmer. Ich kannte nur die Hälfte.

Waren das Kirchenleute?

Meckel: Nicht alle. Mein Landessuperintendent sah das wie viele andere in der Kirche kritisch, er sagte: "Andere Landpastoren züchten Bienen, der Meckel macht seine Politik." Als die Vollversammlung des Ökumenischen Rates 1983 in Vancouver einen "Konziliaren Prozess für Gerechtigkeit, Frieden und Bewahrung der Schöpfung" einleitete, bekamen die Friedens-, Umwelt- und Menschenrechtsgruppen in der Kirche viel mehr Anerkennung. Eppelmann: Die Supermächte rüsteten Atomraketen nach. Wir dachten: Um Gottes willen, wie oft wollen sie die Erde denn vernichten? Wir in der DDR gerieten in Konflikt mit einem Land, das sich permanent als Friedensstaat bezeichnete. Als ob nur die Pershings der Amerikaner des Teufels wären und die SS-20 der Sowjets Friedenstauben. Strategisch war das eine Chance: Wenn wir den Frieden thematisierten, konnten die Oberen eigentlich nichts dagegen machen. Als es mit dem Stichwort Frieden lief, kamen die anderen Themen - Umwelt, Menschenrechte.

Warum entstanden Friedensgruppen im Umfeld der Kirche?

Eppelmann: Es gab in der DDR eine Verordnung, danach konnte theoretisch jeder Veranstaltungen machen, hätte aber nie eine Genehmigung gekriegt. Die einzige Ausnahme war die Kirche mit ihren gottesdienstlichen Veranstaltungen.

Meckel: Der Staat wollte die Kirche auf Gottesdienste festlegen. Wir bestanden darauf, dass Kirche selbst bestimmt, wie christliche Verkündigung aussieht. So erhielten Künstler und Schriftsteller, die sonst keine Gelegenheit dazu hatten, Möglichkeiten aufzutreten. Besonders in den Friedensdekaden im November gab es viele Veranstaltungen zu den Hersausforderungen dieser Zeit.

Nur in der Kirche konnte man freie Rede üben

Warum waren - so wie Sie beide - viele Pfarrer an der friedlichen Revolution beteiligt?

Meckel: Aufgrund ihrer Ausbildung und Erfahrung im offenen Umgang mit Menschen. Als ich aus politischen Gründen nach der 10. Klasse von der Schule geflogen war, konnte ich nur an einer kirchlichen Schule mein Abitur machen. Später als DDR-Außenminister hatte ich als anerkannte Ausbildung nur meinen 10.-Klasse-Abschluss. Faktisch hatte ich intensiv studiert, 15 Semester lang - und zwar völlig frei. Das gab es sonst nicht.

Eppelmann: Nur in der Kirche konnte man freie Rede üben. Auch deshalb saßen später an den runden Tischen sehr viele Kirchenleute. Noch etwas ist wichtig, die soziale Absicherung: 1966 war ich acht Monate im Zuchthaus. Zum Glück war ich damals noch allein! Später als Familienvater wusste ich: Wenn sie mich einsperren, wird die Kirche mich weiterbezahlen. Meine Frau und die Kinder hätten nicht hungern müssen.

Die Staatssicherheit beobachtete Sie. Hatten Sie Angst?

Eppelmann: Ja. In dem Haus in Hohenschönhausen, in dem wir lebten, ließ sich die Klappe zum Kohlenkeller nicht schließen. Manchmal bin ich mit einem - Entschuldigung! -Scheißgefühl runter in den Keller. Ich wusste: Theoretisch kann da einer mit der Eisenstange stehen. Heute weiß ich, dass die bei der Stasi ernsthaft überlegten, wie sie mich umbringen könnten.

Meckel: Daran, dass die Stasi mich physisch angehen könnte, dachte ich nicht. Angst hatte ich um meine Familie. Es gab Erpressungsversuche, die Folgen für meine Familie androhten. Das ging mir sehr nahe. Und als ich am 26. August 1989 in der Berliner Golgathakirche den Aufruf zur Gründung der Sozialdemokratischen Partei verlas, zitterte mein rechtes Knie. Das war mir vorher nur bei meiner allerersten Predigt passiert. Natürlich rechneten wir damit, verhaftet zu werden.

Plötzlich kamen Ihnen als Pfarrer Aufgaben zu, auf die Sie nicht vorbereitet waren - wie haben Sie das geschafft?

Eppelmann: Man wuchs mit den einzelnen Aktionen in diese Rolle hinein. Ein Beispiel: Wir wussten, dass bei Wahlen in der DDR betrogen wurde. Also beobachteten wir als Kirchenleute 1989 bei der Kommunalwahl in einem Friedrichshainer Wahllokal die Stimmenauszählung und konnten nachweisen: Der SED sind 80 Prozent nicht genug, die haben beschissen, um auf 105 Prozent zu kommen! Das waren Betrüger, und das erkannten durch uns auch viele, die eigentlich zu ängstlich waren, sich in die Politik einzumischen. Für diese Menschen musste ich da sein.

Meckel: Und dann war da der 4. Juni, das Massaker auf dem Platz des Himmlischen Friedens. Egon Krenz begrüßte das Vorgehen der Chinesen. Die Leute bekamen Angst, dass nicht Gorbatschow, sondern Peking die Perspektive für die DDR sei. Als dann aber am 9. Oktober, dem Tag der DDR-weiten Großdemonstrationen, nicht geschossen wurde, war klar: Wir werden es schaffen, eine Demokratie aufzubauen. Dafür musste man aber bereit sein, selbst Verantwortung zu übernehmen. Übrigens: Nicht der 9. November ist für mich der Tag der Freiheit, sondern der 9. Oktober.

"Na, jetzt kieken wir mal, was los ist!" 

Eppelmann: Das Ziel der SED war, die Leute von der Straße zu kriegen. Deswegen redete Egon Krenz auch von Wende - damit er weiterregieren konnte. Zwischenzeitlich waren aber eineinhalb bis zwei Millionen DDR-Bürger wenigstens ein Mal auf einer Demonstration gewesen. Das war eine schrittweise Selbstbefreiung. Als Günter Schabowski am 9. November auf der berühmten Pressekonferenz die neue Reiseregelung verkündete, dachten die Leute: "Na, jetzt kieken wir mal, was los ist! " Früher wären sie brav am nächsten Tag zur Volkspolizei-Dienststelle gegangen, um die Reise zu beantragen. Das war vorbei. Ich ging zum Grenzübergang Bornholmer Straße, da standen sie schon und riefen: "Na, nun macht doch mal uff! " Weil sie nicht aufmachten, machten wir es eben alleine. Ich kann nur sagen: Es ging ganz leicht. 

Meckel: Plötzlich wurde die deutsche Einheit zu einem Ziel. Bei den ersten freien Wahlen zur Volkskammer am 18. März 1990 kamen die Parteien, die für eine Vereinigung eintraten, auf 80 Prozent. Warum diese freie Wahl? Warum ein runder Tisch, der die Wahlen einleitete? Wir wollten die Einheit, aber sie musste ausgehandelt werden. Wer verhandeln will, braucht ein Mandat. Diese Legitimation gab es nur durch freie Wahlen.

Eppelmann: Helmut Kohl wird Kanzler der Einheit genannt. Andere sagen, Willy Brandt mit seinem Ausspruch "Jetzt wächst zusammen, was zusammengehört" sei es gewesen. Ich sage: Ohne die Selbstdemokratisierung der DDR hätte es eine Eroberung oder einen Anschluss geben können - aber keine wirkliche Einheit. Meckel: Viele Ostdeutsche sehen das anders; sie sagen, die DDR sei überrannt worden. Ich finde, das ist falsch. Die Ostdeutschen sind selbstbewusst und selbstbestimmt in die Einheit gegangen.

Wie kam es, dass Sie im Kabinett von Lothar de Maizière, der letzten DDR-Regierung, Minister wurden?

Eppelmann: Ich war als Vorsitzender des Demokratischen Aufbruchs an der Regierungsbildung beteiligt und wusste, dass Lothar de Maizière auf mich zukommen könnte, um mir ein Ministerium anzubieten. Da konnte ich doch schlecht sagen: "April, April, war alles gar nicht so ernst gemeint." Mir sind - Markus, das hörst du wahrscheinlich zum ersten Mal - drei Ministerien mit "A" eingefallen: Arbeit und Soziales, Außenministerium oder Abrüstung. Als de Maizière mich fragte "Wollen Sie Minister für Verteidigung werden?", antwortete ich: "Nein, aber Minister für Abrüstung." Ich glaube, das war weise. Hätte es ein Offizier machen sollen, ein früherer Knecht Honeckers? Um Gottes willen!

Meckel: Mir waren die europäische Akzeptanz und besonders die dauerhafte Anerkennung der deutsch-polnischen Grenze wichtig. Das wollte ich verhandeln, also wollte ich Außenminister werden. Und wir wollten die Abrüstung voranbringen.

Eppelmann: Der politisch größte Moment war, als ich das erste Mal in Strausberg im Ministerium war und die Generäle vor mir antraten. Da war klar: Wir haben gewonnen. Diese Leute konnten nicht verhindern, dass ihre Machtsäulen in die Hände der - in Anführungszeichen - Konterrevolutionäre geraten waren.

Enge Vertraute entpuppten sich als Stasispitzel. Bei Ihnen, Herr Meckel, war es Ibrahim Böhme, bei Ihnen, Herr Eppelmann, war es Wolfgang Schnur.

Meckel: Die Frage nach der Stasi im eigenen Umfeld stellte sich schon lange vor der Revolution. Wenn man einen Verdacht hatte, versuchte man das zu klären, aber hundertprozentige Gewissheit gab es nicht. Ich lernte Ibrahim Böhme 1984 kennen, und nach einer Woche hörte ich zum ersten Mal von Gerüchten, dass er für die Stasi arbeite. Mal vertraute ich ihm, mal misstraute ich ihm. Es war eine schwierige Kiste, damit umzugehen.

Das war, wie wenn meine Frau jahrelang fremdgegangen wäre.

Eppelmann: Wolfgang Schnur war ein Freund, seine Stasiaktivität hat mich geschockt. Das war, wie wenn meine Frau jahrelang fremdgegangen wäre. Richtig unanständig. Als er nach seinem Geständnis erzählte, dass er seine Geschichte an den "Stern" verkauft hatte, wurde mir schlecht. Da vermarktet der noch seine Schweinegeschichte. Einmal bin ich ihm wieder begegnet, vor Gericht, ich sollte als Zeuge aussagen. Ich komme die Treppe hoch, er dreht sich um und streckt mir seine Hand entgegen. Er hatte jahrelang nie versucht, mir irgendwas zu erklären. Ich sagte: "Entschuldigung, Wolfgang, bevor ich dir die Hand gebe, muss von deiner Seite aus viel passieren." Ich versuche, als Christ zu leben, dazu gehört Vergebung. Aber als Theologe weiß ich, dass es keine billige Gnade gibt. Wenn mich jemand um Vergebung bittet, muss er bereuen. Ein anderes Erlebnis: Der Stasioffizier, der die 41 Inoffiziellen Mitarbeiter gegen mich geführt hat, hätte mich doch verständnislos angeguckt, wenn ich ihm hätte vergeben wollen. Ich hatte ihn über eine Zeitungsannonce kennengelernt. Wir tranken eine Tasse Kaffee, und unaufgefordert sagte er: "Ich habe mich bei Ihnen nicht zu entschuldigen, Sie waren gegen meinen geheiligten Staat, und damit waren alle Mittel recht."

Meckel: Als ich gehört hatte, dass Ibrahim Böhme im Sterben lag, besuchte ich ihn. Er sollte die Chance haben, sich auszusprechen. Aber als er nur zu Small Talk bereit war, sagte ich: "Das ist kein Besuch allein zur besseren Genesung."

In diesem Jahr liegt die friedliche Revolution 20 Jahre zurück. Was haben wir aus diesen Jahren gemacht?

Meckel: Wir wollten dieses vereinte Deutschland. Ich habe mit der Einheit nicht den Himmel auf Erden erwartet, sondern demokratische Strukturen und die Chance, dass Europa zusammenwachsen kann. Ich finde weltweit kein besseres System als unser Grundgesetz. Viele in Europa hatten Angst vor einer Art Großdeutschland. Wir sind das größte Land der EU. Da ist Fingerspitzengefühl nötig, und wir sind mit dieser Verantwortung bisher gut umgegangen. Als Deutsche sind wir Europäer. Europa erwartet von uns, dass wir Verantwortung übernehmen, einschließlich militärischer Mittel. Ich selbst habe als 17-Jähriger den Wehrdienst in der DDR total verweigert. Als vor einigen Jahren einer meiner Söhne ähnlich pazifistisch für den Zivildienst argumentierte wie ich damals, redeten wir lange darüber. Ich bin heute überzeugt, dass wir Militär brauchen, auch für Friedenseinsätze.

Eppelmann: Ich habe die Unterschiede zwischen Diktatur und Demokratie erlebt. Aus tiefer Überzeugung sage ich: nie wieder Diktatur! Heute erlebe ich Menschen, 20 Jahre und jünger, die glücklicherweise - nie meine Erfahrung machen mussten. Viele von ihnen fragen nur danach, wie sie ihre Wünsche umsetzen können und wie gefüllt ihr Portemonnaie dafür sein muss. Ob sie in diktatorischen oder demokratischen Strukturen leben, ist nicht so wichtig. Ich war immer der Meinung, dass sich 1933 nicht wiederholen kann, weil wir unsere Lektion gelernt haben. Heute denke ich, das gilt nur für die Menschen, die die Folgen von 1933 erlebt haben. Den Nachgeborenen gegenüber haben wir die Pflicht und Schuldigkeit, ihnen unsere Erfahrungen zu vermitteln. Die Stasi schätzte mal, wie groß der harte Kern der kirchlichen Friedensbewegung war: Es waren nur 500 bis 600 Menschen in der DDR. Das will ich den Jungen sagen: Selbst 500 bis 600 Leute können, wenn sie nicht verzweifeln, etwas erreichen! Mir fällt dazu der Satz von Václav Havel ein: "Hoffnung ist nicht die Überzeugung, dass eine Sache gut ausgeht, sondern die Gewissheit, dass etwas Sinn hat, egal wie es ausgeht."

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