Foto: Monica Menez
Durchhaltewillen kann man trainieren
Den Durchhaltewillen kann man trainieren, sagen der Stasi-Aufklärer und der Radsportmanager.
07.10.2010

chrismon: Hatten Sie schon einmal das Gefühl: Hier sagt keiner die Wahrheit, also muss ich es tun?

Hans-Michael Holczer: In der Sportschau kam die Rede auf diese Kirmesrennen nach der Tour de France. Da sind die Stars und viele Amateure, und sie fahren - respektlos ausgedrückt - ein bisschen im Kreis. Da habe ich gesagt, das sind Schaukämpfe. Die Revanche für die Tour de France findet nicht auf dem Kölner Stadtring statt. Man sollte den Fans ehrlich sagen: Wir haben den Profis viel Geld bezahlt, ihr werdet die vorne sehen. Das gab eine Entrüstung! Wie kann der Holczer behaupten, die Rennen sind abgesprochen? Aber sie sind's! Bei solchen Rennen wird Jungs, die oft gerade mal 19, 20 Jahre alt sind, gesagt: "Untersteht euch, ernsthaft zu attackieren. Der Veranstalter will nicht, dass ihr gewinnt." Das Erste, was diese Jungs über den Professionalismus im Radsport lernen, ist: Mund halten und Leute bescheißen.

Joachim Gauck: Das kenne ich. In der Diktatur fängt das schon in der Schule an. Es war unnormal, in einem Aufsatz zu schreiben, was man dachte. Damals fragte ich mich: Ist es rational, die Wahrheit zu sagen? Menschen in einer Diktatur gewöhnen sich an einen Gebrauch der Wahrheit, der ihnen nicht schadet. Diese Verschwörung der Vielen gegen die Wahrheit hat mein Leben geprägt. Sie, Herr Holczer, haben ja auch mit so einer Kultur gebrochen.

Holczer: Ja, aber das merkte ich nur langsam. Ich kam von außen in den Profiradsport. Oft fragt man mich, wie es sein könne, dass ich nichts von den Dopinggeschichten mitbekommen habe. Aber ich hatte auch nur besseres Journalistenwissen. Einige Reporter waren mit Sicherheit näher an bekannten Fahrern dran. Mit Lance Armstrong habe ich vielleicht ganze drei Sätze gewechselt.

Gauck: Sie werden bei Ihrer Liebe zum Sport auch nicht an Doping gedacht haben, sondern an Erfolge!

Holczer: Klar! Wir hatten viele Erfolge. Nur bei den ganz großen Rennen haben wir irgendwie wenig getroffen. Ich konnte mir das nicht erklären. Ich hatte zwar Vermutungen, aber die waren nicht so schlimm wie das, was sich ab 2006 offenbarte.

Gauck: Sie sind also nicht aus Wahrheitsliebe zu Ihrer heutigen Rolle gekommen, sondern weil es Ihnen nicht gelang, die großen Erfolge zu haben. Da müssen Sie doch wütend sein!

Holczer: Vorsicht! Ich weiß nie, ob es uns nicht auch betrifft. Wir haben 1998 das Team Gerolsteiner aufgebaut, zur Zeit des ersten großen Tourskandals und im Bewusstsein, dass es Dinge gibt, die man nicht für möglich gehalten hätte. Ich hätte nicht gedacht, das acht Jahre später noch einmal erkennen zu müssen.

Gauck: Wenn sich alle einig sind, und einer sieht es anders, entsteht ein Druck: Unser Chef soll solidarisch mit uns sein! Der soll nicht den Saubermann geben!

Holczer: Ich war mir dieser Rolle überhaupt nicht bewusst. Sie wurde mir erst klar, als mir mal ein ehemaliger Fahrer, der auch für andere große Rennställe gefahren ist, berichtete: "Ich hab wieder einem Reporter gesagt: Der Holczer ist so ein Radikaler, bei dem läuft das nicht mit Doping." Da ist mir das erste Mal klar geworden, wie ich wirke. Fakt ist trotzdem: Viele glauben mir nicht. In der Öffentlichkeit herrscht die Meinung: Wer die Tour de France fährt, muss betrügen.

Gauck: Man kann das als Außenstehender kaum beurteilen. Man muss nach Menschen suchen, die durch ihre Authentizität das verbürgen, was sie sagen. Wenn dieses Gefühl getäuscht wird, glauben die Leute an gar nichts mehr. Die Gesellschaft verliert die Vertrauensgrundlage, wenn der Glaube an die Möglichkeit von Wahrheit schwindet.

chrismon: Wie geht man um mit enttäuschtem Vertrauen?

Gauck: Wir werden in der - theologisch gesprochen - gefallenen Welt nie erleben, dass alle Menschen die Wahrheit sprechen. Aber wir brauchen ein Wertesystem, in dem die Wahrheit einen ganz klaren Rang hat. Von einem Dichter, dem man vorgeworfen hatte, als inoffizieller Mitarbeiter für die Staatssicherheit gearbeitet zu haben, habe ich mal gehört, Feigheit sei ein Menschenrecht. Da kann ich nur sagen: ein Idiot! Feigheit ist menschlich. Sie ist Schwäche, Versagen. Aber sie als Menschenrecht in den Rang dessen zu heben, was in der Wertordnung ganz oben steht - da begegnet uns nicht nur Irrtum, sondern da beginnt schon Lüge.

chrismon: Doping ist ein Riesenthema. Ringen Sie stellvertretend für unsere Gesellschaft um Wahrheit, Herr Holczer?

Holczer: Ohne Zweifel. Im Radsport gibt es unglaublich viele gekränkte Leute, die betrogen worden sind. Wir brauchen mehr Glaubwürdigkeit. Dafür kämpfen wir im Sport, und ich merke: Dieser Kampf ist interessant für sehr viele Menschen.

chrismon: Woran liegt das?

Gauck: An der Verlogenheit, die in diesem Kampf aufblitzt. Wenn man die Menschen fragte, wer ist Ihnen lieber: ein erfolgreicher Sportler? Oder ein ehrlicher Mensch, der aber immer nur Zehnter sein wird? Die Leute wollen doch unsere Jungs und Mädels oben auf dem Treppchen sehen! Natürlich sauber! Aber wenn das nicht geht? Viele würden sagen, na ja, dann helfen wir nach. Vielleicht nur nicht ganz so doll wie die anderen.

Holczer: Da werden Zwangslagen konstruiert: Wir sind ehrlicher als der Rest, aber ein Gegenmittel müssen wir haben dürfen.

Gauck: Die Ärzte, die beim Doping geholfen haben, sind ja keine Unmenschen und Schwerverbrecher. Sie werden sich nur ausgerechnet haben, was in ihren Zusammenhängen so gerade noch vertretbar ist. So verschieben sich Maßstäbe. Dieses Problem wird Menschen, die es mit der Wahrheit halten, immer begleiten.

Holczer: Das ist übertragbar auf den Rest der Gesellschaft - es gibt immer Gruppen, die an der Lüge verdienen. So ein Produkt wie Epo kann man heute leicht in einer Hinterhofkaschemme herstellen. Aber wer hat denn die Wirkung erforscht? Warum geht keiner auf die Pharmaindustrie los? Wenn Sie sehen, dass Epo an 250. Stelle der Notwendigkeit medizinischer Präparate in seiner Kategorie steht, aber weltweit das Zweitmeistproduzierte ist . . .

Gauck: Ja?

Holczer: Ja! Das können doch nicht nur die paar Radrennfahrer nehmen. Eine große Gruppe von Leuten verdient daran. Und das geht lange gut, weil die Öffentlichkeit brutal nach Erfolg giert. Auf der anderen Seite will sie, dass alles sauber passiert.

chrismon: Kann man von einem Menschen verlangen, wahrhaftig zu handeln, wenn das System - die Diktatur oder die Omertà, das Schweigekartell im Radsport - dies nicht erlaubt?

Gauck: Jedenfalls ist es möglich. Es ist mehr als eine vage Vermutung, denn sehr reale Menschen leben so. Und wer dann - egal ob in privater oder öffentlicher Rolle - an diesem Anspruch scheitert, sollte das Scheitern dann nicht als das eigentlich Richtige hinstellen. Dann soll man auch sagen: Ich wünschte, es wäre anders gewesen, aber das ist mir leider nicht gelungen. Die Liebe zur Wahrheit erzeugt nicht gleich einen Engel.

chrismon: Herr Gauck, was gilt als wahr und was als falsch? Verändern sich unsere Maßstäbe?

Gauck: Die Suche nach Wahrheit kennt Konjunkturen. Das sieht man bei der Aufarbeitung kommunistischer Diktatur. Erreicht ein Thema die Schlagzeilen, ist absehbar, dass die Aufmerksamkeit bald nachlässt. Eine spannende Phase: Ist dann Gleichgültigkeit da? Wir erleben in Ostdeutschland Menschen, über die 1990 klar gesagt wurde: Die dürfen kein öffentliches Amt mehr bekleiden. Jetzt winkt man sie mitunter gerne durch. Wer für seine Wahrheit einsteht, darf nie sicher sein, dass seine Maßstäbe immer mehrheitsfähig sind. Man braucht einen Kern, Werte, an die man sich hält und die einen halten. Sonst ist man ein Blatt im Wind.

chrismon: Das durchzuhalten, kostet aber Mut!

Gauck: Mut ist doch wunderschön! Ein Sportler merkt es, wenn er an seine Leistungsgrenze geht. Diese Grenzen haben wir alle, nicht nur im physischen Sinne, sondern auch in unserem Wertehaushalt. Wenn wir permanent unter dem bleiben, wozu wir an Gutem fähig sind, verlieren wir uns selbst, vielleicht werden wir sogar versaut. Leute, die sich nicht um ihre Werte kümmern, werden nicht fröhlicher. Im Gegenteil, sich in aller Hektik ohne Werte zu amüsieren, macht sie immer dumpfer.

chrismon: Haben die Menschen Angst, das auszusprechen, was sie als wahr erkennen, weil sie nicht als realitätsferne Gutmenschen dastehen wollen?

Gauck: Man ist nicht mutig oder feige, sondern meist beides. Es gibt viele Gabelungen im Leben. Vielleicht schweigt man erst mal nur, wenn andere Unrecht tun. Dann sagt man im kleinen Kreis etwas dagegen. Dann sucht man Verbündete, eine Öffentlichkeit. Wer will, kann erleben, wie Mut und Widerstandswille wachsen. Mut gehört zu einer Lebenshaltung von Verantwortung. Wenn wir so tun, als wären wir nur Versager, sehen wir nur eine Seite des Menschen. Und das nimmt uns Kräfte. Mit Mut und Verantwortung ist es wie im Sport: Wir können nur, was wir trainieren. Holczer: Dann hoffe ich, dass meine Kollegen zumindest an den wirtschaftlichen Schaden denken, den Doping anrichtet, weil Sponsoren abspringen. Spätestens dann verändert sich auch die Haltung zum Doping.

chrismon: Auch Politiker tun sich schwer mit der Wahrheit.

Gauck: Manchmal kann man es sogar verstehen. Soll ein Politiker, zum Beispiel im Wahlkampf, sagen: Wir müssen Verzicht üben? Ich würde bestimmte Themen meiden. Es gibt Situationen im politischen Raum, in denen ist klar: Wenn ein Kandidat eine harte Wahrheit sagt, verliert er. Er muss abwägen, das heißt aber genauso gut, die Lüge zu meiden.

chrismon: Im Evangelium nach Matthäus, Kapitel 10, Vers 16, sagt Jesus: Seid klug wie die Schlangen.

Gauck: Ja, und zur Politik gehört es, dass es nicht die eine Wahrheit gibt. Wenn die Politiker nur ihre Wahrheit nicht verbergen, kann man eventuell tolerieren, dass sie gelegentlich ein taktisches Verhältnis zur Wahrheit haben.

Holczer: Vielleicht funktioniert das so: Ich kann das Ziel der Wahrheit klar vor Augen sehen, aber um sie zu erreichen, nehme ich noch einen Seitenweg. Dann bin ich plötzlich auf der falschen Straße. Das ist eine große Gefahr. Deshalb finde ich es wichtig für jeden, beim Thema Wahrheit ein Selbstgespräch zu führen. Ich würde viele Dinge gern öffentlich sagen, weiß aber ganz genau, dass ich meinen 60 Mitarbeitern keinen Gefallen damit tue.

Gauck: Zu diesem Gespräch gehört die Einbeziehung der wertsetzenden Schichten in unserem Ich. Und das heißt für glaubende Menschen, dass das Gespräch über das hinausgeht, was ich bin. Ich werde mit meinem Gott zu reden haben, und er wird da sein, weil er für die Werte, die ich lebe, eine grundlegende Rolle spielt. In uns ist manchmal mehr Leere als Substanz, mehr Nichts als Kern. Deshalb muss dieses Gespräch ein Gegenüber finden, das mir hilft zu erkennen, was wahr ist.

chrismon: Wer ist Ihr Gegenüber, Herr Holczer?

Holczer: Es ist ein generelles Wertesystem. Inwieweit das religiös geprägt ist, lasse ich offen. Aber Werte wandeln sich. Das ist charakteristisch für Leben überhaupt. Schlimm ist, wenn diese Werte von heute auf morgen komplett zerbrechen.

chrismon: Was ist Wahrheit im Profisport? Der Erfolg?

Holczer: Wenn man Erfolg nur ergebnisorientiert sieht...

chrismon: Geht es denn anders?

Holczer: Ja. Meine Aufgabe als Manager endet letztlich an der verkauften Flasche Wasser. Ich betreibe Kommunikation auf Basis eines Radteams. Das geht nicht ohne gewisse Erfolge. Aber der Erfolg der Kommunikation ist nicht nur eine Frage der Resultate. Schauen Sie sich Bayern München an. Die müssen nicht immer Meister werden und sind trotzdem als Marke bekannt. Wir verlieren, wenn wir uns nur aufs Ergebnis konzentrieren. Länder wie China bringen schon wegen ihres Bevölkerungsreichtums mehr Talente hervor und gehen offenkundig anders mit Wahrheit und Doping um. Wir können uns nicht an ihren Erfolgen messen. Unser Team stellt den größten Wert dar, nicht das Ergebnis. Gauck: Er spricht wie ein Pfarrer! Holczer: (lacht) Ich bin Lehrer!

Gauck: Ach, daher kommt das. Das ist der pädagogische Eros. Ich kann damit eine Menge anfangen. Aber wer spricht? Der Manager, der Erfolg haben will? Oder ein Philosoph? Ich hoffte, Sie hätten recht, dann hätten Sie etwas Gutes über die Rolle des Sports in der Zivilgesellschaft gesagt. Aber wenn wir uns anschauen, wo auf der Welt diese Zivilgesellschaft existiert . . .

Holczer: . . . das ist ein sehr begrenzter Teil...

Gauck: ...formulieren wir etwas, was wir gerne hätten, aber nicht so schnell haben werden. Vielleicht ist ja auch im Sport jene Sehnsucht des Menschen, der Größte und Stärkste zu sein, in einer kultivierten Weise lebendig. Vielleicht nehmen wir uns etwas an Dynamik, wenn wir diesen Wunsch, zu gewinnen, so stark domestizieren, dass wir ihn gar nicht mehr aussprechen.

Holczer: Natürlich hat der Sport diese Funktion, für die Zuschauer. Im Fernsehen ist doch alles andere außer Sport Konserve. Sie können vorher lesen, ob Eva Herman in der Late-Night-Show aufsteht und geht. Sport ist unmittelbar und direkt. Aber wenn unsere intensive Ablehnung des Dopings jetzt nicht auf andere Länder überschwappt, werden wir den Medaillenspiegel abschaffen müssen.

chrismon: Herr Holczer, geht es Ihnen auf die Nerven, dass Sie immer für den Kampf gegen Doping stehen?

Holczer: Ja, weil ich instrumentalisiert werde. Ich werde als Anti-Doping-Kämpfer aufgebaut. Ich bin das nicht! Ich habe einen Rennstall ordentlich zu führen. Aber ich kann nicht sagen, dass es Doping bei uns seit 1998 auf keinen Fall gegeben hat. Ich kann nur für mich garantieren, dass ich es weder geduldet und schon gar nicht angeordnet habe. Ich will kämpfen, aber dieser Kampf hat mich auch abgestumpft und entemotionalisiert. Früher hätte ich ausflippen können, wenn wir ein Rennen gewonnen haben. Heute nicht mehr. Das ist bedenklich. Ich kann mir auch keinen Sport im Fernsehen anschauen.

Gauck: So geht es mir mit politischen Talksendungen.

Holczer: Dieses Gejohle. Da guck ich mir lieber was anderes an. Oder lese ein Buch.

 

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