Tim Wegner
Hedwig Gafga, Autorin
07.10.2010

Chrismon: "Monogamie ist keine Lösung." Mit diesem Ausspruch wurden Sie bekannt, Frau Seeliger. Worum geht es?

Julia Seeliger: Nicht darum, dass jeder mit jedem wild hin und her Sex haben soll. Wir jungen Grünen denken, dass es auch Formen der Solidarität abseits der Familie geben muss. Eine solidarische Gesellschaft, die keinen fallen lässt. Deshalb wollen wir jetzt T-Shirts drucken, auf denen dieser Spruch steht.

Chrismon: Man kommt nicht drauf, was Sie damit meinen.

Seeliger: Nö, man kommt nicht drauf. Aber der Spruch hat sofort eine Debatte ausgelöst.

Daniel Bahr: Man versteht wirklich nicht, dass es dir um Zusammenhalt in der Gesellschaft geht. Also, ich würde das T-Shirt nicht tragen.

Seeliger: Dahinter steckt auch die Forderung, das Ehegattensplitting abzuschaffen, das Verheiratete steuerlich begünstigt.

Bahr: Wenn man das Ehegattensplitting abschaffen will, wofür ich auch bin, ist man doch noch lange nicht für Polygamie.

Seeliger: Man sollte anerkennen, dass die wenigsten Leute ihr ganzes Leben monogam sind. Auch Leute, die nicht heiraten wollen, sollen vom Staat Förderung bekommen, zum Beispiel wenn sie Kinder erziehen.

Bahr: Die Kindererziehung muss gefördert werden, keine Frage. Das Grundgesetz schützt aber auch die Ehe.

Seeliger: Aber die ist so konstruiert, dass man sich lebenslange Monogamie verspricht.

Bahr: Ich finde das nicht dramatisch.

Seeliger: Das kann ja jeder selbst entscheiden. Aber es ist so, dass die, die heiraten, Vorteile haben gegenüber anderen.

Bahr: Weil sie füreinander Verantwortung übernehmen. Sie haben ja auch Pflichten. Wenn einer arbeitslos wird und keinen Job findet, gibt es beispielsweise Unterhaltspflichten.

Chrismon: Für wen würden Sie denn Verantwortung übernehmen, Frau Seeliger?

Seeliger: Ich fände es gut, wenn man für Leute, mit denen man gar nicht verwandt ist, Verantwortung übernehmen könnte. Sozusagen eine Wahlverwandtschaft. Ich bin der Überzeugung, dass der Mensch kein egoistisches Wesen ist, sondern ein soziales Wesen. Ich kann mir vorstellen, mich mit mehreren guten Freunden zusammenzutun und eine Gemeinschaft zu bilden.

Bahr: Hatten wir alles schon mal. 68er, Kommune, das ist jetzt ein Déjà-vu: Julia Seeliger, die Uschi Obermaier des 21. Jahrhunderts! Ich glaube auch nicht, dass der Mensch ein egoistisches Wesen ist. Aber die Ehe hat natürlich einen Sinn. Dass man sich vertraut und zueinander steht, eine Verpflichtung, die nicht mal eben aufgekündigt werden kann. Es ist, was du eine Wahlverantwortung nennst. Mit dem Spruch "Monogamie ist keine Lösung" wird die Ehe diskriminiert. Warum musst du andere dafür kritisieren, wie sie sich entscheiden? Als ob man dann ein Spießer sei.

Chrismon: Wie wollen Sie leben, Frau Seeliger?

Seeliger: Ich kann überhaupt nicht sagen, was bei mir in fünf Jahren sein wird. Ich könnte mir vorstellen, später in einer Erwachsenen-WG zu wohnen. Wie realistisch das ist, wird sich zeigen, wenn ich irgendwann mal Kinder kriege.

Bahr: Dafür brauchst du zumindest schon mal einen Mann. Und dann musst du mit dem verabreden, wie du ein Zusammenleben mit Kindern organisierst.

Seeliger: Ja, klar. Aber der Mann, mit dem ich ein Kind kriegen will...

Bahr: ...das geht nur in einer monogamen ...Nacht zumindest.

Seeliger: Sonst weiß man nicht, von wem das Kind ist. Wenn ich ungeschützten Geschlechtsverkehr habe, dann geht dem schon eine Entscheidung voraus. Es wird nicht so sein, dass da ungeplant ein Kind herauskommt.

Chrismon: Welches Modell bevorzugen Sie, Herr Bahr?

Bahr: Ich kann mir vorstellen, in einer WG zu wohnen. Aber in fünf Jahren, da sehe ich mich in einer Ehe. Ich habe das Glück, die richtige Frau gefunden zu haben, mit der ich mein Leben verbringen möchte.

Chrismon: Hat Religion bei der Entwicklung Ihrer Wertvorstellungen eine Rolle gespielt?

Seeliger: Sicher, nicht nur dabei. Ein Menschenbild, das die Gleichwertigkeit aller Menschen postuliert, kann man gut mit Religion begründen. Über allen steht ja Gott, das macht die Menschen gleich. Da sehe ich gute Anknüpfungspunkte.

Bahr: In meiner Jugend habe ich immer wieder Debatten erlebt, bei denen sich die eigene Meinung herausbildet. Bei mir war das 1992 die Debatte um den Paragrafen 218. Wegen der Haltung der katholischen Kirche, die ich kritisch gesehen habe, habe ich mich damals vom Religionsunterricht abgemeldet. Aber ich bin immer noch Mitglied der Kirche. Insgesamt habe ich mich aber mehr an bestimmten Philosophen als an der Bibel orientiert.

Chrismon: Fast 30 Prozent der Kinder wohnen mit 25 Jahren noch bei den Eltern. Im Durchschnitt heiraten sie mit über 30. Wollen viele einfach nicht erwachsen werden?

Bahr: Ist man etwa nicht erwachsen, wenn man noch zu Hause wohnt?

Seeliger: Vielleicht liegt es ja daran, dass die Leute weniger Geld haben.

Chrismon: Man könnte vermuten, dass sich viele nicht festlegen wollen.

Bahr: 80 Prozent der Studentinnen wollen Kinder. Wenn man nach dem Grund fragt, warum sie keine bekommen, antworten sie nicht mit Elterngeld, nicht mit Ehegattensplitting. Die meisten sagten: "Ich hab noch nicht den richtigen Mann gefunden." An die Entscheidung, sich fest zu binden, geht unsere Generation anscheinend etwas zaghaft heran.

Seeliger: Die Männer wollen auch nicht, das besagen Studien.

Bahr: Die Männer wollen nicht...

Seeliger: ...ja, ihr werdet nicht erwachsen. Es ist wohl oft so, dass der Partner den Kinderwunsch der Frau nicht miterfüllen möchte. Vielleicht wollen sie sich erst selbst verwirklichen.

Chrismon: Wann ist ein Mensch erwachsen?

Seeliger: Wenn er selbstbestimmt entscheiden und handeln kann. Wenn ich noch bei meinen Eltern lebe, habe ich nicht die finanziellen Möglichkeiten dazu. Oft habe ich vielleicht auch noch nicht genug Erfahrungen.

Chrismon: Welche denn?

Seeliger: Zum Beispiel, Liebesdinge zu bewerten ­ das ist am Anfang sehr kompliziert. Wenn man Erfahrungen hat, kommt man mit Krisen oder Trennungen besser klar. Aber in den Gesetzen steht drin, dass man mit 18 erwachsen ist.

Bahr: Dieser 18. Geburtstag, das ist eine Party, bei der man in die Disco geht und bei einer Alterskontrolle endlich den Ausweis zeigen kann. Danach ist man enttäuscht, wenn man merkt: So groß ist der Unterschied gar nicht. Das Erwachsenwerden ist ein Prozess. Manche sind mit Ende 20 noch nicht erwachsen.

Chrismon: Sie haben beide eine politische Laufbahn eingeschlagen. Was war Ihr politisches Aha-Erlebnis?

Seeliger: Ich war erst ehrenamtlich engagiert, unter anderem bei Radio Okerwelle, einem Bürgerradio in Braunschweig. Dann hörte ich einen Vortrag von Hans Daniels, dem ehemaligen Bonner CDU-Bürgermeister; der beschwerte sich darüber, dass sich so wenige junge Menschen engagieren. Man möge doch ein paar Freunde nehmen und es tun. Ich dachte, da hat er recht. Die Grünen sagten mir am meisten zu.

Bahr: Mein politisches Aha-Erlebnis war der Mauerfall. Ich war 13. Unglaublich, was da plötzlich passierte und was man live miterleben konnte.

Seeliger: Ich war zehn und kann mich erinnern, dass meine Mutter oft gesagt hat, dass ich vielleicht erleben würde, wie die Mauer fällt. Aber sie bestimmt nicht. Dann ist die Mauer gefallen, und meine Mutter saß heulend vorm Fernseher. Immer wenn ich ins Haus der Geschichte in Berlin gehe, werde ich ganz gerührt ­ auch wenn ich kein so großer Fan von Deutschland bin. Es war eine friedliche Revolution! Jetzt kannst du weiterreden.

Bahr: Da öffnete sich ein Horizont, Diktaturen brachen zusammen, die Leute gingen auf die Straße, die Menschen konnten reisen. Mein Deutschlehrer war zu Besuch in Leipzig. Ich fragte ihn: Haben Sie mitdemonstriert? Er sagte: Nein. Das geht mich doch nichts an. Da fing ich an, ein politisches Bewusstsein zu entwickeln. Infrage gestellt wurde das im Januar 1991 mit dem Krieg um Kuwait. Dabei hatte ich mir vorgestellt: Die Welt öffnet sich, sie wächst zusammen, Kriege passieren nicht mehr.

Chrismon: Herr Bahr, Sie waren Mitglied in der interfraktionellen Arbeitsgruppe "Generationengerechtigkeit ins Grundgesetz". Herrscht da heute Gerechtigkeit?

Bahr: Nein. Die Lasten werden immer weiter auf kommende Generationen geschoben: Versprechen der Parteien werden erkauft durch Schulden. Die Altersentwicklung können wir nicht wegreformieren. Wir können nur versuchen, diese Lasten einigermaßen fair auf die Generationen zu verteilen.

Seeliger: Und ganz wichtig ist natürlich die ökologische Frage. Wir müssten eigentlich 80 Prozent des CO2-Ausstoßes einsparen, aber da wird Politik zulasten der künftigen Generationen gemacht. Es wird gesagt: Das geht nicht, das können wir uns nicht leisten. An erster Stelle steht wirtschaftliches Wachstum.

Bahr: Wir leben auf Pump und auf Kosten kommender Generationen.

Seeliger: Wow, die FDP macht endlich ein bisschen auf Öko. Es gab dazu sogar eine Resolution auf dem letzten Parteitag.

Chrismon: Die junge Generation soll vorsorgen. Für das Jetzt bleibt nicht viel Energie und nicht viel Geld. Und trotzdem gibt es wenig Protest.

Bahr: Es gibt den stillen Protest. Wir haben eine starke Abwanderung von jungen Leuten aus Deutschland. Die Jungen demonstrieren viel stärker aus eigener Betroffenheit als die 68er, die gegen den Vietnamkrieg und für Chile und Nicaragua waren. Ende der Sechziger hatten wir nahezu Vollbeschäftigung, da musste sich keiner Gedanken machen, ob er nach der Ausbildung einen Job findet. Das ist heute anders. Man redet von der Rushhour des Lebens: in kürzester Zeit fürs Alter vorsorgen, Familie gründen, sich beruflich festigen, weiterbilden.

Chrismon: Geht Ihnen das auch so, Frau Seeliger?

Seeliger: Na ja, ich bin noch nicht fertig mit meinem Studium, und ich werde dann sehen, ob ich die hohe Krankenversicherung bezahlen muss; davor graut mir, ehrlich gesagt. Ich habe keine Perspektive auf einen sicheren Arbeitsplatz, aber ich will auch gar nicht so gerne einen festen Arbeitsplatz. Ich möchte frei arbeiten. Momentan kriege ich ein bisschen Unterstützung von meinen Eltern und arbeite nebenbei an einzelnen Projekten.

Chrismon: Sie sagen, dass zulasten der jungen Generation gewirtschaftet wird. Aber wenn es darum geht, dagegen den Aufstand zu proben, sind Sie ganz schön brav.

Seeliger: Junge Abgeordnete haben ja diese Generationengerechtigkeitsinitiative gestartet. Es könnte bedeuten, dass man manches einklagen könnte. Keine schlechte Idee.

Bahr: Ich habe mich nackt vors Kanzleramt gestellt mit einem Schild: "Bald steht die Jugend nackt da". Herr Blüm hat mich als Sozialschmarotzer tituliert, weil ich 1998 mit anderen einen "Aufschrei der jungen Generation" geschrieben habe. Mittlerweile hat die Gesellschaft das Problem verstanden. Die meisten älteren Politiker reagieren heute schlimmer als damals Herr Blüm. Sie sagen: "Ja, stimmt. Wir haben großes Verständnis..." So kann man dem Besten den Wind aus den Segeln nehmen.

Chrismon: Wie würden Sie das Lebensgefühl Ihrer Generation beschreiben?

Seeliger: Man könnte sagen: die neue Unsicherheit.

Bahr: Das ist so negativ.

Seeliger: Der Zwang zum flexiblen Sein. Flexibilität ist ja was Gutes.

Bahr: Eben.

Seeliger: Der Lebenslauf als Perlenkette.

Bahr: Unglaubliche Chancen, Freiheiten. Wir können in andere Länder gehen. Aber wir bleiben dabei relativ nüchtern, reagieren weniger emotional als die Generation vor uns. Wir glauben nicht mehr, den Weltfrieden retten zu können. Man kümmert sich mehr um sich selbst, um die Ausbildung, darum, aus den Chancen etwas zu machen.

Chrismon: Können Sie beide sich noch eine Alternative zur Politik vorstellen?

Bahr: Klar!

Seeliger: Klar! Wer sich keine Alternativen mehr vorstellen kann, der ist nicht mehr frei. Der muss das tun, was die Partei sagt. Und solche Politiker möchte ich nicht haben ­ und dann muss ich mich auch dementsprechend verhalten.

Bahr: Das würde ich nicht nur auf Politiker beziehen. Neben dem Negativen, dass wir mehr kämpfen müssen, gibt es heute eine viel größere Freiheit. Man kann vieles werden. Der heutige Chef der Telekom hat sein Studium abgebrochen.

Chrismon: Blicken Sie froh in die Zukunft, Frau Seeliger?

Seeliger: Ich sehe schreckliche Ungerechtigkeit in der Welt. Leute, die aus Afrika herüberkommen und dafür ihr Leben bei der Überfahrt in einem Boot aufs Spiel setzen. Wenn ich über globale Gerechtigkeit nachdenke oder über Energiesicherheit, habe ich eine recht negative Zukunftssicht. Ganz egoistisch gedacht, freue ich mich, dass sich die Verhältnisse so flexibilisiert haben. Dass man häufiger im Leben was anderes machen kann.

Chrismon: Wir auf einer Insel der Seligen?

Seeliger: Ich habe Abitur, ich habe ein Studium fast abgeschlossen, ich lebe in Deutschland, bin gesund. Da kann nicht so viel passieren. Das finanziell Schlimmste wäre, dass ich auf Hartz IV komme.

Bahr: Es gibt Schlimmeres. Wenn man krank würde und keiner sich um einen kümmert. Wenn man niemanden mehr hat und alleine gelassen wird, ohne Familie und Freunde.

 

Die Kommentarfunktion ist nur noch für registrierte Nutzer verfügbar. Um einen Leserkommentar schreiben zu können, schließen Sie bitte ein Abo ab, schreiben Sie uns eine Mail an leserpost@chrismon.de oder diskutieren Sie auf Instagram, Facebook und LinkedIn mit.