Irgendetwas passt hier nicht zusammen. Im ersten Moment bin ich versucht, meine Augen zu schließen, als Jeanvier mich anspricht. Diese schneidende Stimme, mit der er mich auffordert, ihm Zigaretten zu geben. Sie klingt wie...nein, sie klingt eben nicht. Sie ist auf eine Weise emotionslos, dass sie jegliche Form von Nähe rigoros verbietet.
Zwölf Jahre alt, schmal, Kindergesicht. Er spricht mit der Stimme eines alten Mannes
Wir sind im Nordosten der Demokratischen Republik Kongo, einer Region, deren Alltag seit Jahren von einem der schlimmsten und verlustreichsten Kriege in Afrika bestimmt wird. Ich gehe durch ein Militärlager in den Hügeln bei Goma, das seit Jahren durch Flüchtlingsströme, Gefechte und Massaker in den Nachrichten auftaucht. Und da steht Jeanvier, Soldat der 4. Brigade der Mayi-Mayi, zwölf Jahre alt, schmal, Kindergesicht. Er spricht mit der Stimme eines alten Mannes, ein Kindersoldat.
Gestern bin ich Jeanvier schon einmal begegnet. Ich stieg mit Colonel T., seinem Vorgesetzten, zur Gefechtsstellung hinauf. Jeanvier schob gerade Wache, auf einem Baum sitzend. Seine Kalaschnikow lag griffbereit in einer Astgabel. Beim Anblick des Colonels sprang er auf den Boden und nahm Haltung an. Als ich ihn später mit Hilfe eines Dolmetschers ansprach, waren seine Antworten unwirsch. Er gab sich keine Mühe, sein Misstrauen zu verbergen. Auf die Frage nach seinem Familiennamen sagte er, dass seine Eltern vor drei Jahren bei einer Epidemie gestorben seien und er deshalb ihren Namen nicht mehr führe. Plötzlich drehte er sich um und ging weg.
Heute steht sein Colonel einmal nicht neben mir. Jeanvier tritt abrupt an mich heran, fordert Zigaretten oder Geld. Geld für Radiobatterien oder Drogen. Mit dieser Stimme, die nicht zum Bild eines Kindes passt. Wenn die Lebenserfahrung eines Menschen Auskunft über sein Alter gibt, dann ist dieser Junge kein Kind mehr, also auch kein Kindersoldat. Der Begriff will nicht passen.
Kadogo nennt man hier im Kongo die Kindersoldaten. Sie prägen das Alltagsbild von Kleinstädten wie jener, in der sich Jeanviers Einheit gerade aufhält. Ihre Präsenz ist so selbstverständlich wie die der Marktfrauen auf dem Dorfplatz. Zu Tausenden kämpfen sie auf allen Seiten in einem Krieg, den keiner von ihnen durchschaut. Es geht um die Interessen Erwachsener: um den Zugang zu den Rohstoffen des Landes und um den politischen Einfluss der zahlreichen ethnischen Gruppen. Jeanvier gehört zu den Mayi-Mayi-Rebellen, die offiziell seit Dezember 2004 in die regulären kongolesischen Streitkräfte eingegliedert sind. Aber jeder hier weiß, dass das wenig mit der Realität zu tun hat.
Colonel T.s Hauptquartier ist eine schmucklose Lehmhütte, ausgestattet mit zwei Holzbänken und einem Tisch. Der Kommandant, heute in Zivil, ist eine vergleichsweise elegante Erscheinung. Er würde auch als Geschäftsmann durchgehen. Colonel T. erweckt den Eindruck, er sei ein seriöser und nachdenklicher Mensch, der sich der Problematik der Kindersoldaten nicht verschließt. Gegen eine Demobilisierung der Kindersoldaten in ihren Reihen würde er sich gar nicht wehren, erklärt er. Allerdings fehle es an Alternativen. Solange den Kindern weder Schulbesuch noch ausreichend Ernährung angeboten werden könne, seien sie als Soldaten am besten aufgehoben.
Wie zu seiner Bestätigung ruft er nach Riphin, dem jüngsten Soldaten unter seinem Befehl, den er mir stolz vorstellt. Riphin ist zehn Jahre alt und seit einem Jahr Soldat in der persönlichen Eskorte des Colonels. Riphin, der nur zehn Kilometer von hier geboren wurde, mustert uns nach einer knappen militärischen Begrüßung aus wachen Augen. Er versteht kein Französisch, also auch nicht das, was mir der Colonel über die Kindersoldaten sagt. Lässig macht Riphin es sich auf der Armlehne eines Stuhls bequem.
Der Colonel schwärmt vom Todesmut seiner Soldaten
Der Colonel schwärmt vom Todesmut seiner Soldaten. Sie achteten das eigene Leben so wenig wie das ihrer Gegner. Sie könnten auch mehrere Tage ohne Essen auskommen, sagt er.
Mit seiner weiten Armeehose und seinem hellblauen T-Shirt würde Riphin in Europa als Jugendlicher kaum auffallen. Hier zeichnet ihn diese Andeutung einer Uniform als Soldaten aus, als einen privilegierten zumal. Meist können nur die Eskorten der Offiziere solchen Luxus vorweisen. Die Masse der einfachen Soldaten ist noch ärmlicher gekleidet als die Bevölkerung. Keiner von ihnen erhält einen regulären Sold, und so gibt es im Kongo viele marodierende Banden ehemaliger Soldaten, die ihren Lebensunterhalt mit Überfällen bestreiten.
Am nächsten Tag begleite ich Colonel T. zu einer Einheit, die auf einer Hügelkuppe hoch über der Stadt Stellung bezogen hat. Von hier aus hat man einen grandiosen Blick auf den Kivusee und das hüglige Hinterland. Auf einem benachbarten Berg zeichnet sich die Kontur eines anderen Lagers ab. Dort stehen Soldaten der ruandischen Armee, mit denen sich die Mayi-Mayi immer wieder heftige Kämpfe geliefert haben. Heute scheint das niemanden zu beunruhigen.
Solche Posten findet man überall entlang der Überlandstraße. Einfache Hütten, mit Bananenblättern bedeckt, die nur unzureichenden Schutz vor den heftigen Unwettern in der Regenzeit bieten. Auf dieser Hügelkuppe leben etwa 15 Soldaten bis sie der Krieg an einen anderen Ort treibt.
In den nächsten Tagen treffe ich Jeanvier immer wieder. An ihm fällt auf, dass er sich offenbar, abgesehen von seinen direkten Vorgesetzten, niemandem unterlegen fühlt. Die Distanz, die er stets zu mir hält, ist eine des Stolzes, wenn nicht der Überlegenheit. Er scheint sich ein wenig geschmeichelt zu fühlen, wenn er merkt, dass ich Aufnahmen von ihm mache. Und dennoch entfernt er sich oft und demonstrativ, wenn ich in seine Nähe komme.
Während ich fotografiere, mischen sich Neugier und tiefes Misstrauen in Jeanviers Blicken und in den Blicken der anderen Soldaten. Ein afrikanischer Freund hat mir einmal erklärt, jedem Weißen werde unterstellt, er habe einen großen, geheimen Plan, deshalb sei ihm mit Vorsicht zu begegnen. Meine Arbeit ist nur möglich, weil sie unter dem Schutz des Colonels stattfindet.
Im Lager oberhalb der Kleinstadt herrscht rege Betriebsamkeit. Zahlreiche Dorfbewohner wurden abkommandiert, um das Lager durch eine Art Küchenhütte zu vervollständigen. Soldaten sind von dieser Arbeit freigestellt. Auch Jeanvier, der inzwischen seine Wache beendet hat, sitzt unbeteiligt auf einem Felsen. Anderswo in Afrika müssen Kinder mit anpacken, wo immer sie können, um die Erwachsenen zu entlasten. Hier haben sie ein Privileg, das sonst nur reiche Kinder aus Europa oder Amerika haben. Sie dürfen zusehen, wenn andere arbeiten, weil sie Mitglied einer besonderen Kaste sind: des Militärs.
Jeanvier wirkt unbeteiligt an all dem. Gefühle zeigt dieser Zwölfjährige nur sehr selten, meist ist es nicht mehr als ein kurzes Lachen, wenn jemand einen Witz gemacht hat. Er stellt eine merkwürdige Unabhängigkeit zur Schau, trotz der Befehlshierarchie. Es gibt in seinem Lager ein Radio, das sich jeder mal ausleihen kann, allerdings muss man eigene Batterien beisteuern, um es zu nutzen. Jeanvier scheint sich besonders für dieses Radio zu interessieren, auch jetzt dreht er daran herum. Er verwendet dafür die Batterien seiner Taschenlampe. Meist setzt er sich von den anderen ab, um ganz in Ruhe Radio zu hören.
Jeanvier ist es offensichtlich unangenehm, angesprochen zu werden. Lieber steuert er die Dinge selbst, geht in die Offensive. Mit dem bisschen Geld, das ich ihm für Radiobatterien gegeben habe, geht er ins nächste Dorf und besorgt Chanvre, ein einheimisches Rauschmittel, das wie Marihuana geraucht wird.
Nicht alle reagieren so abweisend wie Jeanvier. Ein anderer Kindersoldat sitzt an einem nebligen Morgen verfroren mit seinem Gewehr auf einer aus Bambus roh zusammengezimmerten Bank. Ollivier legt seine Scheu schnell ab und erzählt von sich. Vor sieben Monaten wurde er Soldat, weil er die Schulgebühren nicht aufbringen konnte. Der Onkel, bei dem er wohnte, hatte ja nicht einmal Geld, um die eigene Familie zu ernähren. Und seine Eltern? Die hat er vor zwei Jahren bei einem Angriff der ruandischen Armee verloren.
Die Jungen müssen jeden Tag bangen, ob sie etwas zu essen bekommen
Im Alltag außerhalb der Kämpfe passiert wenig: Wachdienste, Patrouillen. Die Jungen müssen jeden Tag bangen, ob sie etwas zu essen bekommen. Als ich Jeanvier mit zwei anderen Soldaten wieder treffe, ist er etwas zugänglicher. Sie haben es sich in einer der niedrigen Grashütten bequem gemacht und lassen einträchtig die Chanvre-Zigarette kreisen. Es wird viel gelacht, auch über mich, diesen seltsamen Musungo (Suaheli für weißer Mann) mit der Kamera, der sich für ihr Leben interessiert.
Die anderen beiden Soldaten sind schon erwachsen. Aber es ist kaum ein Unterschied zwischen einem jungen Kadogo wie Jeanvier und den älteren Soldaten zu spüren. Einträchtig lassen sie die Zigarette kreisen. Ein anderes Mal teilen sie sich das wenige Essen. Wer wie Jeanvier seine Eltern verloren hat, dem bietet diese Gemeinschaft so etwas wie einen Familienersatz. Wenn die Jungen einmal doch Karten spielen oder spaßhaft um ein Gewehr rangeln, wirkt das unpassend, wie die Szene eines absurden Theaterstücks.
Einmal, als ich mit Colonel T. zum Lager unterwegs bin, treffen wir Riphin wieder, der mit einigen Soldaten aus der Leibwache des Kommandanten entspannt an der Straße sitzt. Er kontrolliert vorbeifahrende Fahrzeuge und fordert Wegzoll von den Insassen. Der Zehnjährige ist mit Abstand der Jüngste weit und breit. Riphin ist freundlich, aber zurückhaltend, nur diesmal macht er keinen Hehl aus seiner Aufregung: Seine Mutter war an Malaria erkrankt und hat eine Woche im Krankenhaus verbracht. Nun hat er die Erlaubnis des Colonels, sie morgen zu besuchen. Er freut sich, dass ich ihn begleiten möchte. Colonel T. kommt auch mit.
Das Haus der Familie ist nicht weit von dem Ort, in dem Riphin gerade stationiert ist. Es liegt in Kirotshe, etwas zurückgesetzt von der Straße. Nur ein Teil des Hauses ist überdacht, der andere Teil wirkt wie eine Terrasse, die von rohen Holzwänden eingefasst wird. Hier trifft Riphin seine Mutter. Nach der einen Woche im Krankenhaus ist die 28-jährige Anifa wieder genesen. Die Krankenhausrechnung von 15 US-Dollar kann sie allerdings nicht bezahlen, deshalb muss sie jetzt auf Feldern arbeiten, die dem Krankenhaus gehören.
Während Anifa spricht, legt Riphin immer wieder seiner zweijährigen Schwester Elie tastend die Hand auf den Kopf. Sein Gewehr hat er dabei auf dem Schoß liegen. Riphin ist das älteste von vier Kindern. Der Vater, ein Soldat, verließ die Familie vor zweieinhalb Jahren, noch vor der Geburt von Elie. Seitdem haben sie nichts mehr von ihm gehört. Anifa schlägt sich mit Gelegenheitsjobs durch. Sie arbeitet für Händler auf dem Markt oder verkauft selbst Bananen und Shikwanga, eine Paste, die aus Maniok hergestellt wird. Was sie dabei verdient, reicht kaum zum Überleben.
Soldat - ohne Sold
Um seine Mutter zu unterstützen, hat Riphin vor einem Jahr beschlossen, Soldat zu werden. Dann wollte Anifa ihn zurückholen. Sie sprach mit Colonel T., doch dieser verlangte als Entschädigung eine Ziege und einen Kasten Bier. So viel besaß Anifa nicht, und so blieb Riphin Soldat - ohne Sold, wie die anderen auch. Seine Schlafstelle im Hauptquartier des Colonels ist ein dunkler Raum, etwa drei mal vier Meter groß, mit einigen trockenen Bananenblättern auf dem Boden. Riphin teilt sie sich mit drei anderen Soldaten.
Anderntags ist Markt in der Kleinstadt. Zu Fuß oder auf Fahrrädern werden unzählige Bananenstauden zum Marktplatz geschafft. Auf altersschwachen Lkw werden sie zu schwindelerregenden Bergen aufgetürmt und nach Goma transportiert. Dieses Treiben bietet vielen Soldaten eine willkommene Abwechslung. Jeanvier ist auch da. Er trifft sich mit einem anderen Kindersoldaten aus der Eskorte des Kommandanten, mit Christophe, 13 Jahre alt.
Jeanvier und Christophe schlendern über den Markt und unterhalten sich. Man möchte sie für Freunde halten. Doch ihr Umgang hat, zumindest für meine Augen, etwas sehr Gleichgültiges. Sie treffen sich, unterhalten sich und gehen auseinander ohne ein Zeichen der Zuneigung oder des besonderen Vertrauens. Kein Wunder, für die Kindersoldaten muss es ja auch schon deshalb schwer sein, Freundschaften zu schließen, weil ihre Einheiten nie sehr lange an einem Ort bleiben. Engere Beziehungen bilden sich nur innerhalb der eigenen Einheit.
Der Kriegsverlauf verschlägt die Soldaten in Gebiete, die unzugänglich im Wald liegen. Als die Rede darauf kommt, verdunkelt sich Jeanviers Blick kurz. Irgendwie lassen seine Augen erahnen, dass sie dort im Wald ungeheuerliche Dinge gesehen haben. Dinge, die sich unserer Vorstellungskraft entziehen. Das ist meine letzte persönliche Begegnung mit ihm.
Es wird mein letzter Besuch bei ihm sein.
Als wir eines Nachmittags die Kleinstadt wieder erreichen, wirkt das Hauptquartier des Colonels bis auf die wenigen Wachen wie ausgestorben. Viele Soldaten haben sich in der Mittagshitze in die Hütten zurückgezogen, denn in der Regenzeit legt sich die Hitze wie eine schwere Decke auf das Land. Auch der Colonel sitzt in seiner Hütte. Es wird mein letzter Besuch bei ihm sein.
Fast vier Wochen war ich im Kongo unterwegs. Nun kehre ich nach Deutschland heim. Der Colonel ist in milder Stimmung. Er hat Vertrauen zu mir gefasst und plaudert über seine Familie. Stolz zieht er einige Fotos aus der Hosentasche und erläutert detailliert, welche Verwandten es sind, die in immer gleichen Gruppenbildern zu sehen sind.
Nur ein Foto bleibt unkommentiert. Es zeigt die Truppe des Colonel T. nach einer gewonnenen Schlacht. Lachend präsentieren die Soldaten ihre Waffen: Maschinenpistolen und Gewehre mit aufgepflanzten Bajonetten. Auf den Bajonetten sehe ich die abgeschnittenen Hände ihrer Gegner. Ganz unten in der Ecke erkenne ich Jeanvier wieder.
Das Phänomen Kindersoldaten beschäftigt den chrismon- Fotografen Michael Bause seit Jahren. Bevor er in den Kongo aufbrach, berichtete er über die Einheiten der berüchtigten Guerilla Lord's Resistance Army in Norduganda, die zu 90 Prozent aus zwangsrekrutierten Kindersoldaten besteht. Der Kongo ist Kriegsschauplatz für lokale Warlords und Truppen aus Ruanda und Uganda. Auf allen Seiten kämpfen Kindersoldaten. Ihre Verbände entziehen sich allen Demobilisierungsbemühungen der Vereinten Nationen. "Selten hat mich etwas so bewegt wie diese Begegnungen", sagt Bause. "Selten sind mir aber auch die Chancen und Grenzen der Fotografie so bewusst gewesen wie bei diesem Projekt."