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Gerade ist die Kriminalstatistik erschienen - und sie zeigt: Die Zahl jugendlicher Straftäter steigt. Das hat viele Gründe, einer ist: Gerade junge Menschen werden nach ihrer Entlassung oft rückfällig. Wie lässt sich darauf Einfluss nehmen?
Zum Beispiel durch eine gute Vorbereitung auf ein "Leben ohne Straftaten", sagt Tobias Merckle, den ich für die Wohnlage im Zoom traf. Er ist Gründer des Vereins Seehaus e.V. Der Verein betreibt zwei Einrichtungen in Deutschland, in denen jeweils 14 bis 20 junge männliche Straftäter im "Strafvollzug in einer freien Form", so der Fachbegriff, leben. Das Seehaus Leipzig und das Seehaus Leonberg bei Stuttgart.
Die Anlage in Leonberg umfasst mehrere Häuser mit drei Wohngemeinschaften und den Familienwohnungen der Hauseltern mit ihren Kindern. Es gibt den denkmalgeschützten Altbau von 1609, einen Neubau, eine Schreinerei, Tischlerei, Sporträume und viel Natur. 1,4 ha ist das Gelände groß, für Tobias Merckle ein „idealer“ Ort, nach dem er lange suchen musste. Ohne den Mut des damaligen Bürgermeisters von Leonberg („Das kostet mich vielleicht den Job, aber ich stimme zu") hätte er seine Ideen an dieser Stelle nicht umsetzen können.
Ein Haus für junge Straftäter, so Merckle, liegt "im Idealfall etwas außerhalb“. Junge Straftäter in unserer direkten Nachbarschaft? Auf keinen Fall. Kommt hinzu: Auch für die jungen Männer ist eine lebendige City nicht die richtige Umgebung. Zu groß sind die Versuchungen.
Frage: Wieso leben im Seehaus nur Männer?
Weil die Zahl junger straffälliger Frauen, so Tobias Merckle, viel zu gering sei. Zwei Frauen unter 15 jungen Männern? Keine gute Idee für ein gedeihliches Zusammenleben.
Ideal in Leonberg war nicht nur die Lage – sondern auch die Tatsache, dass der heruntergekommene Altbau grundrenoviert werden musste und auch heute noch regelmäßig zum Handwerken „einlädt“, wie Merckle berichtet. Und genau das sei prima, denn je mehr die jungen Männer selbst mit Hand anlegen müssten, umso höher sei ihr Verantwortungsbewusstsein.
Gerne würde der umtriebige Sozialunternehmer Merckle, 1970 in die reiche Ratiopharm-Dynastie hineingeboren, weitere Projekte entwickeln. Gerade in den ostdeutschen Bundesländern gäbe es "reihenweise" verlassene Höfe und Herrenhäuser, die nur darauf warten würden, eine neue Bestimmung zu finden. Doch zum Altbau braucht es Erweiterungen, das verhindere oft das Baurecht.
Nach langen Jahren des Suchens und Übergangslösungen wurden die zwei Seehäuser in Leipzig neu erbaut. Schöne Häuser, findet Tobias Merckle und sucht weiter nach geeigneten Grundstücken im ganzen Land. Strafvollzug in freien Formen ist ein in der Gesellschaft schwer zu vermittelndes Thema. Und das, obwohl auf lange Sicht die Kosten für den Steuerzahler sinken, ebenso wie das Misstrauen, sobald eine Einrichtung mit dem Betrieb begonnen hat: "Die Nachbarn sehen, dass die Jungs doch nicht die 'Monster' sind, die sie sich vorgestellt haben." Gäste würden freundlich auf dem Gelände begrüsst und die Jungs bringen sich ein, durch gemeinnützige Arbeit, im Sportverein oder anderen Einrichtungen.
Weitere Frage: Welche baulichen Voraussetzungen müssen stimmen, damit ein Seehaus-Projekt funktioniert?
Qualität, sagt Merckle. Bei der Planung, beim Bau, bei allem.
Dazu gehört eine auf Gemeinschaft ausgerichtete Architektur, schöne Möbel, eine hochwertige Ausstattungen. Die Jugendlichen realisieren schnell, wenn ihnen unterstellt wird, dass sie sowieso alles schlecht behandeln. Stühle und Tische aus Metall - so etwas gibt es in den Seehausprojekten nicht. Wichtig seien auch die Grundrisse der WGs, zusammen mit den Familienwohnungen der Hauseltern und ihren Kindern. Einerseits brauche es Privatheit für jeden; andererseits eine gebaute Durchlässigkeit und räumliche Nähe. Ein funkionierendes Familienleben ist neu für viele junge Bewohner. Im Seehaus Leonberg hilft die Architektur beim Kennenlernen.
Wer als jugendlicher Straftäter ins Seehaus Projekt wechseln will, muss sich bewerben und wird ausgesucht. Trotzdem passt es nicht immer, manchmal führt der Weg auch wieder zurück. Doch das sei selten, berichtet Merckle, der viel Zeit mit Strafgefangenen verbracht hat. In den USA, in Südamerika, und auch in Deutschland.
Und die Rückfallquoten? Merckle zitiert eine Statistik aus Badem-Württemberg von 2016 (neuere Zahlen gibt es nicht)
- Wiederinhaftierung nach drei Jahren Seehaus: 25 Prozent
- Jugendstrafvollzug in Baden-Württemberg allgemein: 39 Prozent
Tobias Merckle kennt das Gefängnisleben von innen und weiß, dass junge Menschen nach einem Knast-Aufenthalt oft mehr kriminelle Energie entwickeln als davor. Und er weiß, nach welchen Kriterien er die Gruppen zusammenstellen muss. Wer beispielsweise als Subkulturführer eine Straßengang geführt hat, kann im Seehaus-Alltag der WG gut eine Führungsrolle übernehmen.
Tobias Merckle
Die Tagesabläufe sind streng getaktet. Sport und Schule, Lehre und Hausarbeit. In der Tischlerei treffen sich alle zum Morgenkreis. Es gibt Zeiten der Ruhe und sonntags Gottesdienst oder Ethik. Auch junge Muslime leben in Leonberg.
Tobias Merckle ist überzeugter Christ und lebt den Glauben, auch im Alltag. Den Vorwurf, "zwangszumissionieren", mag er für sich nicht annehmen. Ja, er sei überzeugter Christ, er sehe sich in der Verantwortung zur Nächstenliebe und lädt andere dazu ein, dies auch zu tun; immer im Respekt für einen anderen Glauben, für andere Lebensüberzeugungen
Seit Eröffnung des Hauses in Leonberg, 2003, lebt Tobias Merckle auch dort. Sein liebstes Bonmot dazu: „Ich hab lebenslänglich.“ Weit über 250 junge Männer hat er in dieser Zeit auf ihrem Weg zurück ins Leben begleitet. Mit vielen von ihnen hat er auch nach der Entlassung noch Kontakt: „Das ist wie in einer Familie, da verliert man sich ja auch nicht aus den Augen.“
Info:
Seehaus e.V. ist in vielen weiteren Projekten aktiv und finanziert sich zu großen Teilen aus Spenden: Jugendhilfe, Kriminalitätsprävention und Opferhilfe. Wer mag, kann eine Patenschaft übernehmen oder einfach nur Geld spenden.