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Die verlassene Slackline im Schatten unter zwei sehr großen Bäumen im Berliner Volkspark reizt mich. Kann ich mich darauf halten, ohne hinunterzufallen? Sie ist viel höher und länger als die, auf denen ich sonst gelegentlich balanciere. Manuel macht mir Mut. Er selbst war zwar noch nie auf einer Slackline oder einem anderen Seil zum Balancieren. Aber intuitiv tut er das Richtige, um mich zu unterstützen: Er setzt sich auf den locker gespannten Gurt, so dass er niedriger und viel stabiler wird. Ich steige auf und schaffe einige Schritte, bevor ich beschwingt wieder runterspringe.
Die Kameras, die uns schon den ganzen Tag begleiten, hatten wir für einen Augenblick fast vergessen. Drei Stunden lang sind Manuel und ich in dem Berliner Park für die neue Staffel der #Präsestour unterwegs. Ich will ihn näher kennenlernen. Wer ist dieser Mensch, der so selbstsicher zwischen unterschiedlichen Identitäten hin und her springt? Der als Synchronsprecher:in mal in die Rollen von Cartoon-Figuren schlüpft, eine freundliche Werbestimme ist oder dem Hero mit Superpower im Action Game seine Stimme leiht?
Helden sprechen mit seiner Stimme. Das hätte er sich lange nicht vorstellen können. Denn in seiner Kindheit hat er sich genau diese Helden so manches Mal gewünscht. Als sie gehänselt wurde, seine Klassenkameraden ihn als "Schwuchtel" beschimpften, sie geoutet wurde, bevor er sich vor sich selbst geoutet hat. Sie erzählt lange davon, wie viel Kraft und Mut sie gebraucht hat für ihre Outings.
Akzeptiert werden, so wie man ist
Heute ist der Wechsel zwischen Geschlechtern und Identitäten für Manuel längst kein Struggle mehr. Manuel ist genderfluid. Er fühlt sich nicht die ganze Zeit einem Geschlecht zugehörig. "Gender ist für mich nichts Statisches, sondern etwas Dynamisches", sagt sie mit derselben Selbstverständlichkeit, die sich auch in seiner Kleidung und seinen Bewegungen widerspiegelt. "Was soll an einer bestimmten Art, sich zu bewegen, denn ‚feminin‘ oder ‚maskulin‘ sein?", fragt Manuel. "Eine Bewegung kann mehr oder weniger flüssig sein oder besonders rund, aber doch nicht weiblich oder männlich."
Beruflich verleiht Manuel anderen Menschen Superpower, indem er sie beim Sprechen coacht, ihnen hilft, ihre Persönlichkeit in die Stimme zu legen, Gefühle durch die Stimmfarbe auszudrücken.
Weitere Beiträge unserer chrismon-Herausgebenden finden Sie in unserer Rubrik "Auf ein Wort"
Manuel beeindruckt mich. Im Spiel mit den Identitäten hat er die Rolle seines Lebens gefunden, beruflich wie privat. Gegen Ende unseres Spazierganges durch den Park frage ich sie: "Woher nimmst du eigentlich diese Superpower? Was gibt dir selbst Halt?" Und tatsächlich muss sie ein bisschen überlegen. Die Antwort ist so erstaunlich nah, dass es ihn selbst zu überraschen scheint, wie lange er überlegen musste. "Meine Community, die queere Community, der ich mich zugehörig fühle, die trägt mich, die gibt mir Halt", sagt er. "Sie nimmt mich so an, wie ich bin, zu jeder Zeit in jeder Rolle, und genau das brauche ich, um Halt in aller Bewegung zu haben."
Für einen Moment kommt mir die Szene auf der Slackline wieder in den Kopf, als Manuel mir, ohne es zu wissen, Halt gegeben hat. Wo er mich hat sein lassen, mich unaufgeregt unterstützt hat und Stabilität in eine Situation gebracht hat, in der ich mich locker hätte blamieren können. Er zeigt mir: Ohne es zu ahnen, können wir uns gegenseitig Halt geben. Einfach, indem wir authentisch sind und uns zugestehen, dass wir uns mit unseren unterschiedlichen Superpowers gegenseitig bereichern können.
Anna-Nicole Heinrich fragt auf ihrer #Präsestour viele unterschiedliche Menschen: Was gibt dir/uns Halt? Infos zum Videoprojekt "Point of View – Aus Annas Sicht" demnächst auf ihrem Instagramkanal @annanicoleheinrich