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Als wir 2003 nach Afghanistan zurückgingen, fiel es mir schwer, mich an den Anblick von Einschusslöchern und der Zerstörung überall in der Stadt zu gewöhnen. Ich war sehr ergriffen von den Geschichten meiner Mitschüler. Viele von ihnen hatten ihre Liebsten im Krieg oder während der Taliban-Herrschaft verloren.
Als ich eines Nachmittags nach Hause kam, fragte ich meinen Vater, ob Afghanistan wirklich von dem Wort »faqān« (persisch: jammern, weinen) abstamme und das der Grund sei für das große andauernde Leid in diesem Land.
Verschiedene Traditionen und Bräuche
Er war sehr verärgert darüber, schloss kurz seine Augen und begann enthusiastisch von den vielen schönen Seiten dieses Landes zu erzählen. Afghanistan ist eines der weltweit diversesten Länder. Neben der großen ethnischen Vielfalt ist besonders auch die sprachliche und kulturelle Diversität hervorzuheben. In jeder Provinz trifft man auf völlig verschiedene Traditionen und Bräuche, stets jedoch auf Gastfreundlichkeit. Selbst die ärmsten Familien laden in ihr bescheidenes Zuhause ein und bieten Speisen und Getränke an, obwohl sie selbst kaum genug zum Leben haben.
Imam Ali und die zwei Löcher in einem Berg
Er erzählte mir von den bildschönen Landschaften, dem Hindukusch-Gebirge, dem längsten Fluss Afghanistans namens Hilmend, den Buddha-Statuen von Bamiyan, der Band-e-Amir-Seenkette und schließlich von seiner Heimat Sancharak in der Provinz Sar-e Pol, die berühmt ist für ihre vielen Mythen. Besonders gefiel mir die Legende von Imam Ali, der nach einer furchtbaren Dürreperiode ins Dorf kam und mit seinen Fingern zwei Löcher in einem Berg hinterließ, aus dem bis heute klares Trinkwasser strömt.
Obwohl die Worte meines Vaters sehr ermutigend waren, änderte sich nichts an der Tatsache, dass all dies die schlimmen Zustände in Afghanistan nicht verbesserte. Im Gegenteil – die große Vielfalt des Landes wurde schon immer als politisches Werkzeug von in- und ausländischen Einflussnehmern benutzt, um Spaltung und Hass im Land zu schüren.
Die Taliban zwingen Millionen Menschen ihre Kultur auf
Die persische Sprache, welche schon mehrere tausend Jahre alt ist, gehört zu den wichtigsten kulturellen Schätzen Afghanistans und war bereits zu Zeiten des Königreiches Amtssprache. Sie ist die Sprache von weltberühmten afghanischen Dichtern wie Rumi, Balkhi und Sanai. Wir sind mit ihren Gedichten aufgewachsen und lernten so viel von ihnen über das Leben. Die derzeitigen Machtinhaber versuchen, diese Sprache zu schwächen und gar zu eliminieren, indem sie versuchen, die paschtunische Sprache im Land zu etablieren. Die Identität von Millionen Menschen in Afghanistan ist eng verknüpft mit der persischen Sprache, welche nun verdrängt wird.
Sie versuchen alles, um die wundervolle Vielfalt dieses Landes zu zerstören und die Gesellschaft nach ihren absurden Vorstellungen zu vereinheitlichen. Die Taliban sind eine primitive monoethnische Gruppierung, die jahrelang hinter den Bergen lebte und nun ein ganzes Land regiert, ohne nationale und internationale Zustimmung. Wie kann in diesem Land jemals Frieden einkehren, ohne die mosaikartige Vielfalt der Kultur und Menschen dort zu respektieren?
Eine schmerzvolle Vergangenheit und unerträgliche Gegenwart
Es ist jetzt fast zwei Jahrzehnte her, seitdem ich meinem Vater diese Frage stellte. Bis heute finde ich seine Antwort nicht überzeugend, aber ich verstehe inzwischen, dass er damals bewusst vieles ignorierte, wie viele andere auch, die voller Hoffnung zurück in ihr Heimatland kehrten.
Nach wie vor kennt das Leid in Afghanistan keine Grenzen. Alle sind erschöpft. Müde von der schmerzvollen Vergangenheit und der unerträglichen Gegenwart. Als ich vergangene Woche das Foto eines alten Mannes sah, der in den Trümmern des Erdbebens saß, konnte ich in seinen Augen die völlige Hilflosigkeit und Verzweiflung erkennen. Als wäre all die Unterdrückung, Terror, Vertreibung, Flucht, Diskriminierung, Armut und Genozid nicht schon genug, droht die Situation jetzt durch eine Naturgewalt komplett zu eskalieren.