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In Folge der Machtübernahme der Taliban am 15. August 2021 flüchteten tausende Menschen aus Afghanistan und unzählige Familien wurden über Nacht getrennt. Nur wenige Tage vor dem Kollaps der Regierung, war mein Vater beruflich in einem Nachbarland unterwegs, aus dem er schließlich nicht zu uns nach Kabul zurückkehren konnte. Es blieb ihm nichts anderes übrig, als allein in die Türkei zu gehen.
Als ich meinen Vater zuletzt in der Türkei besuchte, war er abgemagert, mit trüben und müden Augen. Er umarmte mich fest und fing an zu weinen. Er versuchte sein Gesicht zu verstecken, damit ich seine Tränen nicht sehen konnte. Seit den sechs Monaten, die er hier allein verbracht hat, schlief er ausschließlich auf einem harten Sofa, das selbst zum Sitzen unbequem ist. Ich glaube, er möchte sich nicht erlauben in einem weichen Bett zu schlafen, solange seine Frau und Kinder noch in Gefahr sind. Es verging keine Sekunde, in der er nicht über Afghanistan und seine Familie nachdachte. Manchmal war er so in Gedanken vertieft, dass er nicht mal bemerkte, wenn ich nach ihm rief.
Die Nachrichten aus Kabul sind durchweg schlecht
Jeden Morgen stand er ganz früh auf, um die Nachrichten aus dem afghanischen Fernsehen sowie seinen Freunden und Kollegen durchzusehen. Zwei bis dreimal täglich riefen ihn TV-Sender an, um ihn über die aktuelle Situation in Afghanistan zu interviewen. Die Nachrichten, die er täglich erhielt, waren durchwegs schlecht. Ein Freund berichtete, dass aufgrund der großen Hungersnot die Zahl der Diebstähle in Kabul deutlich angestiegen wäre. Eine ganze Familie sei zuletzt beraubt und ermordet worden. Dann zeigte mir mein Vater ein Bild von dem Jungen, der bei dem Raub ums Leben gekommen war. Ich versuchte ruhig zu bleiben und meinen Vater zu besänftigen: „Mach dir keine Sorgen, die Diebe wissen genau, wo sie hingehen. Bei uns gibt es doch gar nichts zu holen.“
Dann gingen wir für ein paar Tage nach Istanbul, um ihn etwas abzulenken. Doch ganz egal, wohin wir gingen, redetet mein Vater ununterbrochen von meiner Mutter und meinen Geschwistern. Einmal weckte er mich mitten in der Nacht, weil er entschieden hatte, nach Kabul zu gehen, um bei seiner Familie zu sein. „Wie lang sollen wir noch warten, bis sie jemand dort rausholt? Es ist besser, wenn ich bei ihnen bin.“ Völlig schockiert und noch halb im Schlaf, starrte ich sprachlos an die Wand. Schließlich stand ich auf, brachte ihm ein Wasser und beruhigte ihn. Glücklicherweise konnte ich ihm sein widersinniges Vorhaben schnell wieder ausreden.
Diese Generation hat ihr ganzes Leben für Freiheit gekämpft
Es ging ihm dann etwas besser, als wir einen seiner alten Freunde besuchten. Er hatte, wie mein Vater auch, als Journalist in Kabul gearbeitet und Zuflucht in der Türkei gefunden. Sie redetet über ihre Jugend, die Zeit, als sie das erste Mal mit den Taliban konfrontiert waren. Damals hielt sich mein Vater in Masar-e-Sharif auf. Taliban-Männer kamen und begannen wild um sich zu schießen. Ich erinnere mich, dass wir in Iran angerufen wurden und die Nachricht erhielten, dass unser Vater bei dem Angriff wahrscheinlich getötet wurde. Damals war ich noch sehr jung und wusste nicht, wie man richtig betet. Ich zog einfach meine Gebets-Hidschāb an, kopierte die Bewegungen meiner Schwester und wiederholte die Worte: „Lieber Gott, bitte bringe unseren Vater unversehrt nach Hause.“
Jetzt ist er wieder allein in der Türkei
Die Generation meines Vaters hat ihr ganzes Leben für Freiheit gekämpft, in der Hoffnung, bessere Zeiten für sich und ihr Heimatland herbeizuführen. Jetzt haben sie alles verloren und leben als Geflüchtete auf der ganzen Welt verteilt. Nach sechs Wochen musste ich meinen Vater wieder allein in der Türkei zurücklassen. Kurz vor meiner Rückreise nach Deutschland fand ich eine Postkarte auf seinem Schreibtisch, die ich ihm aus Berlin gesendet hatte: „Lieber Vater, es wird schon bald der Tag kommen, an dem Mutter wieder neben dir sitzt, Safran-Tee trinkt und Nüsse aus unserem Dorf nascht. Und wir werden um euch herum sitzen und gemeinsam lachen. Bis dahin, pass gut auf ich auf. Deine Tochter Tahora.“