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Jetzt ist es schon fast zwei Monate her, dass Afghanistan von den Taliban erobert wurde und die Menschen vor Ort leben immer noch in völliger Anspannung und Ungewissheit. Meine Familie, wie viele tausende andere auch, wartet seit dem 31. August.
Sie, wie so viele andere, warten auf einen alles veränderten Anruf mit der Aufforderung zum Flughafen gehen. Ihre Rücksäcke sind fertig gepackt, ihre Telefone rund um die Uhr eingeschaltet. Meine Schwester hat bei der UNO gearbeitet, meine ganze Familie ist wegen ihres Engagements für Freiheitsrechte und Demokratie in Gefahr und muss dringend das Land verlassen dürfen.
Inzwischen sind sie zur Sicherheit in ein anderes Haus gezogen, das etwas abgelegener liegt. Alles, was sie mitgenommen haben, sind ein Teppich, Decken, ein Gaskocher und einen Fernseher zur Beschäftigung meines vierjährigen Neffen. Einmal täglich gehen sie raus, um Lebensmittel zu kaufen. Sie kaufen nicht viel – nur ein bisschen Brot und Obst, um durch den Tag zu kommen.
Wir konnten kurz miteinander lachen
Heute habe ich seit Längerem meine Mutter gesprochen. Sie sah etwas besser aus als beim letzten Mal. Sie trug ein hübsches Blumenkleid und ihr Gesicht hat gestrahlt mit einem kleinen Lächeln. So lächelt sie immer, wenn sie Hoffnung hat, dass bald etwas Gutes passieren wird. Wir haben sogar ein paar Witze gemacht. Ich sagte ihr, dass sie nun "endlich" auch mal das Leben unter Taliban-Herrschaft erleben dürfe... Sie lachte und meinte, dass das nach all den Jahren der Migration und Vertreibung das das einzige sei, was sie noch nicht durchgemacht hätte. Sie ist so stark und kann verliert nicht in ihren Humor, auch nicht in einer so schrecklichen Situation.
Je größer ihre Hoffnung, desto schmerzvoller mein Gefühl der Machtlosigkeit
In der Ecke konnte ich die gepackten Rucksäcke und Koffer stehen sehen. Meine Mutter hat mich gefragt, ob sie einige meiner Sachen aus Kabul mitbringen sollen. Sie hätten gehört, dass sie nicht viel Gepäck mitnehmen dürfen, aber ein paar Kleinigkeiten wären schon in Ordnung. In diesem Moment wurde mein ganzer Körper plötzlich taub und ich bekam kalten Schweiß auf der Stirn. Einerseits ist all die Hoffnung ihr einziger Trost, andererseits ist meine Unfähigkeit ihnen zu helfen eine Qual für mich. Je größer ihre Hoffnung, desto schmerzvoller mein Gefühl der Machtlosigkeit. Ein bitteres Lächeln überzog nun mein Gesicht und ich sagte ihr, dass sie nichts für mich mitbringen müsse. Ich möchte nur, dass sie gesund und wohlauf von dort wegkommen.
Ich hab ihm ein Versprechen gegeben - kann ich es halten?
Hinter meiner Mutter stand mein kleiner Neffe. Er rannte aufgeregt zum Telefon und sagte mir: „Tante Tahora, wir steigen bald ins Flugzeug und kommen zu dir. Du hast gesagt, wir werden im Park spielen.“ Da erinnerte ich mich an den Moment, als ich mich von ihm verabschieden musste. Es war früh am Morgen und er hatte noch geschlafen. Ich gab ihm ein Küsschen auf die Wange und flüsterte ihm ins Ohr: „Mach’s gut, mein Liebling!“. Er wachte auf, begann zu weinen und fragte mich, warum ich ihm das antun würde. Er klammerte sich fest an meinen Hals und lies nicht mehr los. Ich sagte ihm, dass er mich bald in Deutschland besuchen kann und wir in den Park gehen werden. Parks mit Rutschen, Schaukeln und allerlei Spielgeräten. Er ließ mich langsam los und wischte sich die Tränen aus dem Gesicht. „Versprochen, Tante Tahora?“Jetzt fühle ich mich schlecht für ein Versprechen, das ich wahrscheinlich nicht halten kann.