Plötzlich wertvoll
Werden wir bald "O du fröhliche"singen können? Und mit wem?
Lena Uphoff
25.11.2020

Advent, Advent, ein Lichtlein brennt. Die dunklen Wochen der Pandemie lassen mich hoffen, dass Weihnachten uns von dieser Finsternis erlöst. Doch von Verwandten und Freunden erfahre ich, wie schwer es ihnen fällt, froh und munter zu entscheiden, wie, wo und mit wem sie das Christfest feiern werden.

Lena Uphoff

Arnd Brummer

Arnd Brummer, geboren 1957, ist Journalist und Autor. Bis März 2022 war er geschäftsführender Herausgeber von chrismon. Von der ersten Ausgabe des Magazins im Oktober 2000 bis Ende 2017 wirkte er als Chefredakteur. Nach einem Tageszeitungsvolontariat beim "Schwarzwälder Boten" arbeitete er als Kultur- und Politikredakteur bei mehreren Tageszeitungen, leitete eine Radiostation und berichtete aus der damaligen Bundeshauptstadt Bonn als Korrespondent über Außen-, Verteidigungs- und Gesellschaftspolitik. Seit seinem Wechsel in die Chefredaktion des "Deutschen Allgemeinen Sonntagsblatts", dem Vorgänger von chrismon im Jahr 1991, widmet er sich zudem grundsätzlichen Fragen zum Verhältnis Kirche-Staat sowie Kirche-Gesellschaft. Seine besondere Aufmerksamkeit gilt kulturwissenschaftlichen und religionssoziologischen Themen. Brummer schrieb ein Buch über die Reform des Gesundheitswesens und ist Herausgeber mehrerer Bücher zur Reform von Kirche und Diakonie.

Insbesondere die Anfang November verkündeten Regeln für private Feiern und Besuche bei nahen Verwandten sorgten für Aufregung. "Wenn man nicht mal mehr Oma und Opa besuchen darf", beklagte Studentin Lena, "was bleibt einem denn da noch? Seit ich auf der Welt bin, kenne ich es nicht anders: bei Kerzenschein ein Geschenk bekommen und sie dann umarmen und küssen."

Ihr Freund Tim hat Lena vorgeschlagen, doch per Zoom eine Onlinefeier mit der Familie zu machen. "Unmöglich!", meinte sie. "Was soll das denn, wenn ich meine Liebsten nur auf einem Bildschirm betrachten kann und sie mich auch? Reiner Blödsinn!" Ich versuchte, sie damit zu trös­ten, dass die strengen Vorschriften ja vielleicht vor den Feiertagen noch gelockert würden. "Das glaubst du ja selbst nicht", schnaubte sie. "Gerade solche Feste gelten doch für die Politiker als absolutes Gefahrenpotenzial. In jedem Interview erklären sie, dass Nähe vermieden werden muss."

Weihnachten in froher Runde zu ­feiern ist keine Selbstverständlichkeit

Ich habe mir die Covid-19-Pandemie so wenig gewünscht wie alle anderen. Sie fiel wie ein Stein in den Teich eines frohen und kulturell offenen Lebens. Doch sie macht aus dem ­stillen – manchmal müden – Gewässer einen Ort der Aufmerksamkeit. Selten habe ich mit so vielen Leuten intensiv über unsere alltägliche Lebensweise geredet. Unendlich viel, was bis dahin als selbstverständlich und – ja! – als langweilig galt, wurde für uns zum Anlass, dessen Wert zu begreifen.

Im Gottesdienst, in Konzerten und Kinos eng nebeneinanderzusitzen, ist keine Strafe, sondern ein Gewinn. Weihnachten in froher Runde zu ­feiern und seinen Liebsten nahe zu sein, sind keine Selbstverständlichkeiten. Ihre wahre Bedeutung wird gerade in Krisenzeiten wirklich erkannt.

Die Pandemie scheint gemessen an Kriegen als überwindbar

Lena nickte. "Stimmt. Genau das hat mir gestern – natürlich per Telefon – auch Oma erzählt. Sie war mit ihren Eltern als kleines Mädchen nach dem Zweiten Weltkrieg auf der Flucht aus Schlesien. Im Dezember 1945 kam die Familie irgendwo in Hessen bei Bauern unter, die sie in ihrer Scheune wohnen ließen." Eines Morgens habe die Uroma ihrer Tochter gesagt, ges­tern sei Heiligabend gewesen. "Da brach sie in Tränen aus. Warum sie denn nicht gefeiert hätten, fragte sie. Ihre Mutter meinte, zum Feiern gebe es nicht den geringsten Grund. Zumal Uropa Kriegsgefangener sei."

"Aber dann", fuhr Lena fort, "ereignete sich das Wunder. Die Tür der Scheune ging auf, die Bäuerin kam rein. Und dann sagte sie: Frohe Weihnachten! Habt ihr Lust, heute Abend mit uns zu essen? Uroma nickte und ihr Mädchen sang ,O du fröhliche‘."

Mir half diese Geschichte zu einer weiteren Einsicht: Die Pandemie ­ist eine große Herausforderung für die Menschen. Gemessen an Kriegen mit Millionen Toten, Vertreibung und Not erscheint sie als überwindbar. Schmerz und Trauer in den Familien ihrer Opfer mindert dies jedoch nicht.

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