Auf der Landstraße Richtung Schwarzmeerküste wird Istanbul allmählich grüner: Wälder, Landhäuser mit verwilderten Obstwiesen, Hunde bellen, aus einer Dorfmoschee ruft ein Muezzin zum Gebet.
Marian Brehmer
An einem windigen Abend im Dezember öffnet sich in dieser Wohngegend ein efeuumranktes Tor: Die Mevlevi-Sufis in Beykoz auf der asiatischen Stadtseite von Istanbul laden wie jeden Sonntag zur Gemeinschaftsfeier ein. Ein Gartenpfad führt zum Hauseingang eines schlichten Versammlungshauses. Dort warten zwei Männer in weißen Hemden, reglos, die Köpfe leicht gesenkt, die rechte Hand auf der Brust. Sie nehmen Besuchern Schuhe, Schal und Mantel ab. Eine junge Frau im knöchellangen türkisfarbenen Kleid legt Pantoffeln in den Flur.
Seit April gelten auch in Istanbul Ausgangsbeschränkungen, und auch die Sufis in Beykoz feierten bis Redaktionsschluss Mitte Juni keine Zusammenkünfte, sie übertrugen Botschaften und Vorträge per Video und Zoom.
Alles perfekt, wenn die Meisterin den Raum betritt
Doch normalerweise erschallen Sonntag für Sonntag im Sufizentrum in Beykoz Gebete, Gedichte und Gesänge, die über zwanzig Generationen tradiert wurden. Etwa 60 bis 70 Leute sind eingeladen, zur Hälfte Schülerinnen und Schüler. Die anderen gehören einem festen Freundeskreis an, überwiegend moderne Sinnsucher aus der türkischen Mittel- und Oberschicht. Einige Schüler reisen schon am Samstag an und übernachten im Haus des Ordens.
Jahrhundertelang wiesen Mevlevi-Dedes, die geistigen Großväter des Ordens, Aspiranten auf dem Sufipfad in das Sema ein, das berühmte Drehritual der Derwische. Der Gemeinschaft von Beykoz steht jedoch seit fünfzehn Jahren eine Frau vor: Hayat Nur Artıran.
Aus dem Inneren drängt Räucherduft in die Nase. Teelichter brennen auf den Treppenstufen. Im Versammlungsraum sind die Esstische gedeckt. Mevlevi-Derwische kontrollieren die Tafel. Zwischen goldumrandeten Tellern dampfen die Vorspeisen. Tamarindenlimonade glitzert in Glaskelchen. Alles soll perfekt sein, wenn die Meisterin den Raum betritt.
"Wer sich selbst kennt, der kennt seinen Gott"
Man nennt die Sufis auch islamische Mystiker. Sie suchen die unmittelbare Nähe zu Gott, die spirituelle Fülle, die vollkommene Liebe, den wahren Frieden. Sie stellen das persönliche innere Wachstum über äußere religiöse Regeln und Gesetze. Die Mevlevis zählen zu den ältesten Sufiorden der Türkei. Sie folgen den Lehren Dschalaluddin Rumis, der im 13. Jahrhundert lebte und in der Türkei auch unter seinem Ehrentitel bekannt ist: "Mevlana", mein Herr. Hayat Nur Artıran, die Meisterin, hat sanfte Gesichtszüge und kurze Haare. Sie trägt eine schwarze Tunika, dezenten Lidschatten und einen grünen Seidenschal über Kopf und Schultern. Sie ist die einzige Mevlevi-Meisterin der Türkei und gehört zu einer Handvoll Frauen weltweit, die Sufiorden leiten. "Der Sufismus ist das Wissen, mit dessen Hilfe sich der Mensch selbst kennenlernt", erklärt sie und zitiert einen Ausspruch des Propheten Mohammed: "Wer sich selbst kennt, der kennt seinen Gott", nur er sei mit sich in Frieden und könne der Gesellschaft Frieden bringen.
Ihr Ehrengast: ein stämmiger Großenkel Rumis aus 22. Generation. Neben ihm wirkt Artıran filigran, geradezu jugendlich, nicht wie 70. Sie ruft mit geschlossenen Augen das Gebet ihres Ordens: "Möge diese Zusammenkunft gesegnet sein. Möge sich das Gute offenbaren, das Übel uns fernbleiben. Mögen die Herzen froh sein!" Beim Essen herrscht Stille. Man flüstert, Derwische bedienen die Gäste lautlos. Eine Schülerin liest aus den Gesten der Meisterin ab, was zu tun ist, gießt Wasser nach und nimmt leise Anweisungen entgegen. Einem Gast zu dienen gilt Mevlevis als Übung auf dem Weg der eigenen Vervollkommnung
Wer dient, lässt sein Ego zurück
Später im Empfangszimmer des Sufizentrums: Artıran lässt sich mit einem Kissen im Rücken auf das grüne Samtsofa nieder. Die Möbel hätten einmal ihrem Meister gehört, merkt sie an: "Dienen bringt das Innere des Menschen zum Vorschein. Die Meisterin sucht im Dienst des Schülers zuallererst die Liebe. Denn der Dienst ist nur so viel wert wie die Liebe, die in ihm steckt." Für Mevlevis ist Liebe kein Gefühl, sondern eine Lebensweise, ein Prinzip, das die Welt zusammenhält. Die Sufigemeinschaft an jedem Wochenende ist für Derwische wie eine Probezeit. Sie wollen Geistiges und Materielles in ein Gleichgewicht bringen und Werte verinnerlichen.
Für Sirin Cemoglu, eine Schülerin von Artıran, verträgt sich das Dienen in der Sufigemeinschaft gut mit ihrem selbstbestimmten Leben als Lehrerin an einer Istanbuler Privatschule: "Ich habe gelernt, den tieferen Grund hinter den Geschehnissen in meinem Leben zu verstehen", sagt sie, "gleichzeitig begegne ich meinen Schülern mit mehr Wärme, Geduld und Verständnis." Fast alle Schülerinnen und Schüler von Artıran gründen Familien, haben einen akademischen Abschluss, üben angesehene Berufe aus – in einer Gesellschaft, die auf Leistung, Schnelligkeit und ein starkes Ego gepolt ist. Wer in der Sufiwelt zu dienen lernt, soll sein Ego zurücklassen.
"Im Sufismus gibt es weder Mann noch Frau"
Artıran tauchte schon als Kind in diese Welt ein. Der Vater fühlte sich dem Orden der Alevi-Bektaschis zugehörig, die Mutter ging bei einem eher konservativen Meister in die Lehre. "Dort saßen Männer und Frauen voneinander getrennt in verschiedenen Zimmern", sagt Artıran: "Manchmal mischte sich meine Mutter einfach unter die Männer, um ihrem Meister näher zu sein." Mitte des 20. Jahrhunderts sei dies in Anatolien außergewöhnlich selbstbewusst gewesen. "Das hat nicht jedem gepasst. Sie war ein einzigartiger Charakter, eine Frau mit einer starken Haltung und viel Liebe zum Leben" – eine emanzipierte Derwischfrau.
"Im Sufismus gibt es weder Mann noch Frau." Diesen Satz spricht Artıran oft aus. Und sie fügt hinzu: "Die Frau hat im Islam einen hohen Stellenwert. Bedauerlicherweise wird das bislang nicht verstanden."
als Lehrerin an einer Privatschule
Artıran studierte Modedesign und arbeitete 15 Jahre für ein internationales Bekleidungsunternehmen. Wie das mit ihrem späteren Weg als Mystikerin zusammenpasst? "In der Textilwelt werden Kleider entworfen", sagt sie. "Im Sufismus wird der Mensch neu entworfen. Die Risse in seinem Inneren werden genäht." Mit Ende 20 hatte die junge Textilvertreterin ein Erweckungserlebnis. Sie fand ihren ersten Sufilehrer, ließ das Berufsleben zurück und diente ihm 13 Jahre. Ende der 90er Jahre führte ein Traum sie zu S¸ efik Can, ihrem zweiten Mevlevi-Meister. Sie wurde seine rechte Hand, pflegte ihn bis zum Tod. "Ich habe nie einen so demütigen Menschen gesehen. Er war wie ein Nichts." S¸ efik Can verfügte, dass sich auf seiner Beerdigung Frauen im Kreis drehen sollten. Jahrhundertelang war diese Meditation der Mevlevis Männern vorbehalten.
Für Atatürk verhinderten Sufis die Moderne
Auch sein spirituelles Erbe übertrug er einer Frau, Artıran. Damit rüttelte Sefik Can im Sufi-Establishment an einem Tabu. "Er wollte seinen Zeitgenossen den wahren Wert der Frau zeigen", sagt Artıran, "zumindest denen, die das ver- stehen konnten." Eine Schülerin betritt den Raum: Ob etwas benötigt werde. Artıran schaut sie an: "Nein, canım, du kannst die Tür schließen." Dschanim, "meine Seele, mein Leben", so reden Derwische einander an.
Artıran nennt ihre Gemeinschaft nie einen Sufiorden. Staatsgründer Kemal Atatürk hatte die Orden als Modernisierungshindernis angesehen und sie 1925 schließen lassen. Erst seit zehn Jahren erlebt der türkische Sufismus eine vorsichtige Renaissance, angetrieben durch Bestseller und Fernsehserien mit historischen Heiligengestalten als Protagonisten.
Drehen darf nur, wer wirklich sein Herz reinigen will
Nach dem Essen tragen Derwische die Tische hinaus. Im leeren Versammlungsraum beginnen sie zu beten, Lieder zu singen, aus dem Koran zu rezitieren. Die Ordenslitanei geht über in den Sema, das Drehritual. Es folgt subtilen Regeln: Fußstellung, Körperhaltung, alles muss stimmen, vor allem aber die innere Haltung. "Drehen darf sich nur, wer sich wirklich zum Ziel gesetzt hat, sein Herz zu reinigen", sagt Artıran. Vor dem Drehen nehmen Schülerinnen Blickkontakt zu ihr auf. Ein Nicken signalisiert ihre Erlaubnis.
Zum Ende schlagen die Trommeln immer schneller, die Gesänge werden ekstatischer. Nun steht auch Artıran auf und beginnt, sich langsam um die eigene Achse zu drehen. Sachte setzt sie einen Fuß nach dem anderen auf. Ihr Blick kehrt sich nach innen.
Sufiorden
Seit der Staatsgründer Kemal Atatürk 1925 die Sufiorden verbot, ging die Zahl der in Gemeinschaften organisierten Sufis stark zurück. Sie sind nur noch als geschlossene Vereine und Stiftungen organisiert, erscheinen aber heute wieder öffentlich in Fernseh-Talkshows.
Nur eine Handvoll Mevlevi-Gemeinschaften existiert noch in Istanbul und Konya, wo auch das Grab ihres Gründers Rumi steht. Sein Orden ist, wie auch andere, über die Türkei hinaus in der ganzen islamischen Welt bekannt. Viele der anatolischen Sufiorden etwa sind weitaus konservativer eingestellt als die Mevlevis von Beykoz, trennen in ihren Versammlungen Männer und Frauen und dulden keine Meisterinnen.
Neben den traditionellen Orden gibt es auch sogenannte New-Age-Sufis, die sich vom Islam gelöst haben.



