Wo muss eine Kirche stehen, die den Gekreuzigten jeden Tag vor Augen hat? Ganz klar: an der Seite der Schwachen.
Wo stand sie, seit schon in den neunziger Jahren immer wieder Fälle sexualisierter Gewalt an Schutzbefohlenen durch Pfarrer und Diakone öffentlich wurden? Leider zu oft an der Seite der Täter. Die Kirchenvertreter hatten Unrecht damals ja schon erkannt. Aber zu oft schwiegen und vertuschten sie, zeigten Kollegen einander nicht an, kannten Ankläger und Richter in kirchlichen Disziplinarverfahren die Beschuldigten persönlich, zu oft gerieten die Opfer der sexuellen Übergriffe aus dem Blick.
Burkhard Weitz
Seit 2018 hat sich die EKD-Synode Großes vorgenommen. Wege sollen gefunden werden, länger zurückliegende Fälle aufzuarbeiten und Konsequenzen für die Zukunft daraus zu ziehen. Opfer sexualisierter Gewalt sollen sich in einer unabhängigen EKD-weiten Anlaufstelle melden können, ebenso in den Landeskirchen. Neu gemeldete Fälle sollen schneller bearbeitet werden. Maßnahmen für Prävention sollen beschlossen werden: Wie kann die Kirche vorbeugen, dass ihr Personal sexuell übergriffig wird, wie kann sie es von vornherein verhindern oder zumindest erschweren? Bei jedem einzelnen Schritt der Aufarbeitung und der Prävention sollen Betroffene mitreden, soll ihre Expertise einbezogen werden.
Die Deutsche Bischofskonferenz will Betroffene von sexualisierter Gewalt besser entschädigen. Ein Weg auch für die evangelische Kirche? Ein Interview mit Kerstin Claus vom Betroffenenrat
Heute, am 12. November 2019, haben die Hamburger Bischöfin Kirsten Fehrs und der bayerische Kirchenjurist Nikolaus Blum der EKD-Synode einen Zwischenstand gegeben. Die Arbeit geht voran. Vor einem Jahr waren der evangelischen Kirche 479 Opfer von sexualisierten Übergriffen in evangelischer Kirche und Diakonie bekannt, mittlerweile haben sich 770 gemeldet, fast 60 Prozent von ihnen erlitten sexualisierte Gewalt in der Diakonie, vor allem in Kinderheimen.
Wie groß ist das Ausmaß von Missbrauch und sexualisierter Gewalt wirklich?
Aber es zeigt sich eben auch: Der Weg, auf den sich die Kirche da eingelassen hat, ist nicht einfach. Die zentrale Anlaufstelle der EKD "help" hat ihre Arbeit aufgenommen – so weit, so gut. Aber die Betroffenenvertreter wünschen sich, dass sie nicht nur Fälle telefonisch aufnimmt und an die Landeskirchen weitervermittelt, sondern dass die Mitarbeitenden dort auch die Wut, den Schmerz und das Leid aushalten, die ihnen da am Telefon entgegengeschleudert werden.
Auch möchte die EKD eine Dunkelfeldstudie in Auftrag geben, also anonyme Befragungen von etwa 100.000 Menschen, die als repräsentative Stichprobe aus der deutschen Bevölkerung ausgewählt werden: Wie groß ist das Ausmaß von Missbrauch und sexualisierter Gewalt wirklich? Allein kann die EKD das nicht stemmen, das hat sie erkannt. Sie will sich mit anderen gesellschaftlichen Institutionen zusammenschließen – etwa aus dem Bereich des Sports. Sexualisierte Gewalt ist ein gesamtgesellschaftliches Problem. Der Beauftragte der Bundesregierung für Fragen des sexuellen Kindesmissbrauchs, Johannes-Wilhelm Rörig, hat heute auf der Synode zugesagt, so eine Studie zu koordinieren.
"Aufarbeitung ist ein Marathon"
Eine EKD-weite Richtlinie über Nähe und Distanz definiert, welchen Abstand Pfarrer, Diakone und Erzieher gegenüber Schutzbefohlenen einhalten müssen. Das Seelsorgegeheimnis darf nicht mehr dazu dienen, sexuelle Gewalt zu vertuschen. "Nur, wenn ansprechbar wird, was beschämt, verunsichert, was als Machtmissbrauch erlebt wird, kann verhindert werden, dass Täter ihr System etablieren", sagte Kirsten Fehrs in ihrem Bericht vor der Synode.
Kerstin Claus aus dem Betroffenenrat des UBSKM (des Unabhängigen Beauftragten für Fragen des sexuellen Kindesmissbrauchs der Bundesregierung) lobt die EKD-Chefaufklärerin Kirsten Fehrs als "unermüdliche Kämpferin" und bat die Synodalen: " Stärken Sie sie."
"Aufarbeitung ist ein Marathon", bescheinigte Kerstin Claus der EKD-Synode. Sie selbst hatte in ihrer Jugend sexuelle Ausbeutung durch ihren Religionslehrer erlebt, einen Pfarrer der bayerischen Landeskirche. Was sie dazu motiviert, die Kirche immer wieder zu ermahnen, die Betroffenen zu beteiligen – und Täter wirkungsvoll zu belangen und Schutzbefohlene vor ihnen zu schützen. Kerstin Claus hat eine Vision: dass die Kirche Strukturen schafft, die Kinder und Jugendliche sprechfähig machen. Dass Täter sich nicht auf das Schweigen von Mitwissern verlassen können. Dass die Kirche ein Schutzraum für die Schwachen wird – und nicht für Täter.