Heute ist ein Tag, der für ein Elternpaar in der Nähe von Frankfurt am Main mit der Gewissheit begonnen hat, dass ihr Sohn nicht mehr lebt. Ein 40 Jahre alter Mann stieß am Montagvormittag im Frankfurter Hauptbahnhof Mutter und Kind absichtlich vor einen einfahrenden ICE. Die Frau konnte ihr Kind nicht mehr retten. Der Junge wurde nur acht Jahre alt.
Es ist eine schreckliche und erschütternde Tat. Und es ist eine Nachricht, die zutiefst verunsichert, weil jeder Mensch schon einmal am Bahnsteig gestanden und arglos auf den Zug gewartet hat.
Und immer wieder die Frage: Woher stammt der Täter?
Wir wissen noch nichts über das Motiv des Täters. Aber schon wenige Stunden nach dem Verbrechen wurde seine Nationalität bekannt und von der Polizei bestätigt. Er sei Eritreer. Das veranlasste AfD-Chefin Alice Weidel dazu, die Tat zu instrumentalisieren: "An Entsetzlichkeit ist diese Tat kaum mehr zu überbieten - was muss noch passieren? Schützt endlich die Bürger unseres Landes - statt der grenzenlosen Willkommenskultur!" Dass später vermeldet wurde, der Täter habe seit 2006 in der Schweiz gelebt, wird viele der Empörten kaum mehr interessiert haben.
Wann immer dieser Tage Verbrechen geschehen, bei denen Menschen zu Schaden kommen, geistert eine Frage durchs Internet: Woher kommt der Täter? Es ist ein banges Warten auf der einen Seite. Man hofft, dass kein Migrant beschuldigt wird, damit Taten eben nicht politisch aufgeladen werden. Denn auf der anderen Seite ist das Warten auf die Nachricht, welcher Herkunft ein Tatverdächtiger ist, häufig von kühler Berechnung geprägt.
Ein "öffentliches Interesse" ist fast immer konstruierbar
Die Ziffer 12 im Pressekodex des Presserates besagt seit der Kölner Silvesternacht, dass die Nationalität eines Täters in der Regel nicht erwähnt werden solle, es sei denn, es bestehe ein "begründetes öffentliches Interesse". Weil nach Verbrechen so viele Mediennutzer wissen wollen, woher ein Täter stammt, gerät die Polizei unter Druck. Ein "begründetes öffentliches Interesse" ist in Zeiten der Polarisierung zwischen denen, die Zuwanderung ablehnen, und jenen, die an einer Willkommenskultur festhalten, fast immer konstruierbar. Und im Fall des gestrigen Verbrechens hat die Debatte über den Pressekodex wohl auch nur theoretischen Wert, denn viele Zeugen – die übrigens, schwer traumatisiert, selbst zu Opfern wurden - dürften gesehen haben, dass der Täter eine dunkle Hautfarbe hat. Wer das nun verschweigt, setzt sich dem unsäglichen Geschrei aus, Teil der "Lügenpresse" zu sein.
Dennoch muss man die Öffentlichkeit auch an den Schlusssatz von Ziffer 12 erinnern, der - sinngemäß - besagt, dass Medien darauf achten sollen, keine Vorurteile zu schüren. Es ist fast mit Händen zu greifen, wie Menschen dunkler Hautfarbe unter Generalverdacht geraten. Man muss Angst haben vor einer Spirale der Selbstjustiz.
Wir geben der Trauer keinen Raum
Während ich das schreibe, entferne ich mich übrigens von den Opfern des gestrigen Montags. Kaum ist ein Junge auf tragischste Weise zu Tode gekommen, reden wir fast nur noch über den Täter und die politischen Folgen der Tat. Inmitten der zunehmenden gesellschaftlichen Polarisierung verlernen wir gerade, still zu sein. Wir geben der Trauer keinen Raum. Auch nicht dem Mitleid mit der Familie des Opfers und mit denen, die alles mit ansehen mussten. Es geht viel zu häufig nur noch darum, das Grauen für sich zu deuten.
Es bleibt nun nichts anderes, als den Ermittlern zu vertrauen – darauf, dass sie ihre Arbeit tun und das Motiv des Täters ausleuchten, so gut es geht. Wenn Erkenntnisse vorliegen, warum er etwas so Böses getan hat, ist immer noch Zeit für Debatten darüber, wie solche Taten zu verhindern sind. Erst neulich wurde eine Frau in Voerde vor einen Zug gestoßen. Sie starb. Mussten wir gestern die Tat eines Nachahmers erleben? Ist der Mann wahnsinnig? Handelte er aus Hass?
Wir wissen es nicht, und Nichtwissen zu ertragen ist schwierig. Trauer und Ohnmacht auszuhalten auch. Aber keinem Opfer ist geholfen, wenn die Spaltung der Gesellschaft voranschreitet und Minderheiten unter Pauschalverdacht am Pranger stehen.
Für Dienstagabend, 30. Juli, 18.30 Uhr, laden die evangelische Hoffnungsgemeinde und die ökumenische Bahnhofsmission zu einer weiteren Andacht im Frankfurter Hauptbahnhof ein. Sie soll neben dem Reisezentrum stattfinden.