Standpunkt - Lob des Dilettantismus
Standpunkt - Lob des Dilettantismus
Eva Müller
Lob des Dilettantismus
Alles Stümper, Pfuscher, Murkser? Nein. Gerade hoch engagierten Amateuren verdankt die Menschheit entscheidende Kenntnisse. Dilettanten haben Dinosaurierknochen klassifiziert, Motoren gebaut und Bazillen entdeckt.
Lena Uphoff
28.08.2018

Vorgelesen: Standpunkt "Lob des Dilettantismus"

Wer staubt denn hier so? Das ist Bettina, die gerade eine komplexe chemische Testreihe durchführt. Sie versucht heraus­zufinden, welche Reismehlmischung perfekte "Dango"-Bällchen hervorbringt, eine japanische Spezialität. Gegessen wird im Schneidersitz an einem traditionellen Tisch, an dem Bettina auch Schriftzeichen übt – ein schwerer Fall von Japanomanie. ­Maries Leidenschaft ist ihr Garten: Da hat sie auf 150 Quadratmetern ­Boden 700 Pflanzen versammelt, darunter 50 Rosen, drei Bäume, zwei Großbüsche – und sie kann alle mit Namen ansprechen. Tobias ­wiederum hortet Vinylplatten, bosselt seit ­Jahren an einer High-End-Anlage mit Röhrenverstärker und schreibt Songtexte; bisher hat die allerdings nur sein Hund Lemmy gehört.

Lena Uphoff

Sabine Horst

Sabine Horst von epd Film hat ­einen Seeroman in der Schublade und kann theoretisch den K2 über mehrere Routen besteigen. In einem anderen Leben würde sie in China Dinosaurier ausgraben.

Es gibt da draußen viele Leute, die sich in ihrer Freizeit ­verblüffende Kenntnisse aneignen und Dinge her­stellen, die man nirgends ordern kann. Manche betrachten ihre Aktivi­täten als Hobbys. Tobias eher nicht: Rock ist sein Leben. Gemeinsam ist ihnen, dass ihr Ansehen in keinem Verhältnis steht zu der Mühe, die sie für ihre Leidenschaften aufwenden, und dass sie nicht damit rechnen, von einem Kochbuchverlag oder ­einer Plattenfirma angerufen zu werden. Die Energie, die sich hier entlädt, zielt nicht auf Gratifikation. Es ist eine Mischung aus Forscher- und Gestaltungsdrang. Es geht darum, etwas zu erschließen, das den Verpflichtungen des Alltags fernsteht. Und das man nicht legitimieren oder zwanghaft einem Ende zuführen muss: Es kann was dabei rauskommen – muss aber nicht. Ich würde sagen, meine Bekannten sind Dilettanten.

"Der bekannteste unter den Dilettanten war Goethe"

Dilettanten? Also Stümper, Pfuscher, Murkser? Wie in: "Der ­Deutsche Fußball-Bund beweist erneut ­seinen Dilettantismus im Umgang mit ­Krisen" ("Tagesspiegel")? Tatsächlich wurde der Begriff nicht immer so abwertend gebraucht. Im achtzehnten Jahrhundert bezeichnete er einen Kunstliebhaber oder Kenner. Später verstand man unter "Dilettantismus" die hingebungsvolle Beschäftigung mit einem Fachgebiet, für das man keine regelrechte Ausbildung ge­nossen hat – und das war durchaus reputierlich gemeint. Wenn Ihr Mann Sie fragt, warum Sie stundenlang mit dem Klemmbrett in der Hand die Einflugschneise ihres Bienenstocks beob­achten, wo doch die Steuererklärung noch nicht gemacht ist, können Sie darauf verweisen, dass auch niemand an Heinrich Schliemann geglaubt hat, als er den Spaten zum ersten Mal in die Erde von Troja rammte. "Viele unserer allerbesten Problemstellungen und Erkenntnisse verdanken wir gerade Dilettanten", schrieb Max Weber. Dilettanten haben Saurierknochen klassifiziert, Motoren gebaut und Bazillen entdeckt. Der bekannteste unter ihnen ist Goethe, der sich nebenberuflich mit Pflanzenbiologie und Farbwahrnehmung beschäftigte.

Von den meisten Dilettanten dieser Ära, oft Aristokraten mit viel Zeit, hat man allerdings nie mehr was gehört. Und sowieso wurde der bürgerlichen Gesellschaft, die praktisch das Copyright auf das "Expertentum" hat, das planlos-universalgenialische Treiben bald verdächtig: Sie stempelte es als nichtsnutzig und neurotisch ab. Es dauerte eine ganze Weile, bis das Dilettantische breitenwirksam wiederentdeckt und positiv besetzt wurde: im Punk, der den spontanen musikalischen Ausdruck feierte und gegen die virtuosen Gitarrensoli der alten Artrocker andröhnte.

Plötzlich hatte der Dilettantismus eine subversive Note – er kam jetzt von unten. Und die Kulturwissenschaftler begannen, Spuren der dilettantischen Leidenschaft in den ödesten Ecken unseres durchformierten Alltags zu orten. Michel de Certeau etwa sprach Anfang der Achtziger in dem soziologisch-philosophischen Klassiker "Kunst des Handelns" von einer "ameisenhaften Aktivität" inmitten der Konsumgesellschaft, von einer Art Bastelarbeit, die dem Zusammen­hang von Produktion und Profit ­entrissen ist: Arbeit, die der Einzelne "für sich" tut. Das müssen keine Großprojekte sein.

"Das Internet hat die Energie der Dilettanten in einer nie dagewesenen Weise entfesselt"

Das Basteln am Alltag fängt schon dort an, wo Waren, öffentlicher Raum und zugemessene Zeit umfunktioniert und den eigenen Bedürfnissen angepasst werden. Es findet sich in den psychedelischen Mustern, die ein Matheschüler dahin kritzelt, wo binomische Formeln stehen sollten, in den sachverständig-ironischen Spielberichten, mit denen ein HSV-Fan morgens im Büro den Betrieb aufhält, oder in den Bild- und Textmontagen, den Gifs und Memen, die sich im ­Internet verbreiten wie Pilzkulturen.

Überhaupt, das Internet: Das hat die dilettantische Energie in einer nie dagewesenen Weise entfesselt. Dilettanten tummeln sich heute auf ­Youtube, Tumblr, Instagram, Vimeo. Sie tragen nicht nur das Wissen der Welt auf Wikipedia zusammen, sondern bereichern es, indem sie ­wunderlichen ­Obsessionen folgen.

Dilettanten montieren Musik­videos, drehen Filme, zeichnen ­Comics, programmieren Computer­games um, retten verlorene Texte, fördern den interkulturellen Austausch. Und anders als im echten Leben, in dem sich ­jeder Mann, der mal eine Weile auf dem Gebiet des Windelwechselns dilettiert hat, gleich in einem Buch feiert und jedes Zufallstor eines F-­Juniors haltlos beklatscht wird, sind im Internet die Frauen und ­Mädchen vornedran. Zum Beispiel in der Medien­kritik und Literatur: Rund um die anfangs rein weibliche Fanfiction – privat verfasste Geschichten, die an populäre Filme, Bücher, Comics und Serien an­docken und millionenfach auf Fanplattformen stehen – ist eine neue Volkskultur entstanden.

Diesen Wildwuchs gilt es zu schützen. Auch in Zeiten von Hate Speech. Und gegen den Zugriff der Unterhaltungsgiganten. Es liegt Sprengkraft im Dilettantismus, man könnte ihn als eine private Revolte betrachten. Denn unsere Gesellschaft sieht solche gesetzlosen Aktivitäten eigentlich nicht vor. Hobbys sind akzeptiert, wenn sie in kontrollierten Bahnen verlaufen und der Freizeitbranche Gewinn bescheren – würden wir die "Do it yourself"-Bücher dieser Welt aufeinanderstapeln, kämen wir bis zum Mars. Da sollen wir aber gar nicht hin, weil uns noch zwei Staffeln "Game of Thrones" fehlen, und wenn dann noch Zeit ist, wär’s gut, in "16 schnellen Schritten" für Entspannung und die Wiederherstellung unserer Arbeitskraft zu sorgen. Dilettanten passen nicht in diese Strukturen. Denen ist es wurst, was andere Kunden bei Amazon bestellen, ihre Suchbewegungen im Internet – heute "Shakespeare", morgen "Schleimpilz" – bringen jeden Algorithmus durcheinander. Und sie lassen sich nicht "eintakten".

"Wir Stümper, Pfuscher und Murkser können ins Blaue denken"

Die Dilettantin steigt auf dem Weg zum Einkaufen an der falschen Haltestelle aus, weil sie an einem Artikel über mexikanische Malerinnen der 1930er hängengeblieben ist, und hackt nachts das letzte Kapitel einer alternativen ­Harry-Potter-Geschichte in den Laptop, auf das ihre 14 Followerinnen gespannt warten. "Total übermüdet. Heute Klausur. Betet für mich", heißt es dann im Kommentar.

Das alles spricht nicht gegen solide Bildung, akademische Studien, Expertise. Natürlich müssen die Welt und das, was wir daraus machen, ­analysiert werden; sicher dauert es Jahre, bis einer so weit ist, dass er ­einen Teilchenbeschleuniger bedienen kann, und für Wurzelbehandlungen gehe ich immer noch zum Zahnarzt, ­meiner macht einen Riesenjob, ­danke! Die meisten Experten aber, darauf weist der Wissenschaftshistoriker Peter Finke hin, der das "Lob der Laien" in der Forschung singt (Oekom-Verlag, München), sind organisatorischen und ökonomischen Zwängen unterworfen, sie müssen Fördergeld einwerben und "Exzellenzcluster" bilden.

Wir Stümper, Pfuscher und Murkser dagegen können ins Blaue denken. Abtauchen. Die Spur wechseln. Die Reisbällchen hat Bettina aufgegeben. Aber ihr japanischer Tisch funktioniert. In traditionellen Haushalten ist der Kotatsu mit Heizung und Decke ausgestattete und buchstäblich der Hotspot des Familienlebens, hat Bettina uns neulich unterrichtet. Überhaupt verbringe ja die halbe Menschheit die meiste Zeit des Tages kauernd, beim Arbeiten, Lernen, Essen – Stühle sind mehr so ein Westding. Als wir uns später zum Döner am Boden zusammenfalten, haben wir das Gefühl, die Welt mit etwas anderen Augen zu sehen.

Infobox

Ein paar dilettantische Zufallsbekanntschaften/Funde/Empfehlungen:

Fan-Autorinnen und –forscherinnen international sammeln sich auf diesem Portal: www.archiveofourown.org

Hier auf Deutsch: www.fanfiktion.de

Fan-Art, also illustrative Kunst: www.deviantart.com

Popkultur-Wiki von Medienfreaks, alles über Serien: www.tvtropes.org

Verliebt in historische Persönlichkeiten? www.fuckyeahhistorycrushes.tumblr.com

DER Film zum Thema: Jim Jarmuschs "Paterson" mit Adam Driver als schüchternem Busfahrer, der Gedichte schreibt, während seine Frau malt, musiziert und backt – eine Feier des dilettantischen Alltags. Von 2016. Auf DVD.

Und noch ein Buch: Dilettantismus als Beruf. Hrsg. von Safia Azzouni und Uwe Wirth, Kadmos, Berlin 2010.

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