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Beer, Ulrich
Das einzig Sichere in der menschlichen Gesellschaft und das einzig Berechenbare, was Menschen verbindet, scheint ihr Egoismus zu sein also genau das, was sie auf lange Sicht am wirksamsten trennt. Aber mit diesem Egoismus lässt sich rechnen. Auf ihn baut sich mit unbeirrbarer Folgerichtigkeit die effektivste Wirtschaftsform auf, die wir kennen, die freie Marktwirtschaft. Wer in seinem Verhalten zu anderen Menschen davon ausgeht, dass diese zunächst ihren Vorteil suchen, wird sich selten irren. Jeder, der anderen Vorteile verschafft, ihren Egoismus einkalkuliert und befriedigt, wird ihnen willkommen sein, und er kann am sichersten auf den Rückfluss von Vorteilen rechnen.
An dieser Stelle ist ein deutliches Wort für einen gesunden Egoismus nötig. Wenn er wirklich das ursprünglich allen Menschen gemeinsame Motiv ist und einer der mächtigsten Motoren der kulturellen und wirtschaftlichen Entwicklung, so kann er nicht prinzipiell schlecht sein. Er dient der Selbsterhaltung, macht wach und tätig, findig und produktiv. Er ist für ein ausgeglichenes Selbstwertgefühl des Einzelnen unerlässlich, und seine ungebrochene Potenz stellt eine Triebkraft dar, die für unser Handeln die wichtigste Energie liefert. Reine Nächstenliebe hat oft etwas Asthmatisches und Ätherisches. Wenn sie auf den Kräftezufluss eines gesunden Egoismus verzichten muss, ist sie bald verdorrt.
Gefährlich wird der Egoismus erst, wenn er schrankenlos wird und den Egoismus der anderen nicht als ebenso berechtigt einschätzt wie den eigenen. Dann wird der andere zum Instrument des eigenen Vorteils, wird unterdrückt und ausgebeutet. Diese Art Egoismus ist genau genommen nicht seine Übersteigerung, sondern eine Kümmerform. Sie zeugt von der Angst, zu kurz zu kommen, und der Sucht, sich auszuweiten auf Kosten anderer. Angst und Sucht sind nicht Überflusssymptome, sondern Kennzeichen defizitärer Zustände. Verbissene Egoisten sind im Grunde arme Menschen, mögen sie auch noch so viele Vorteile für sich ergattert haben.
Gesunder Egoismus ist etwas ganz anderes. Er bezieht den anderen mit ein, weil er weiß, dass letzten Endes dessen Wohl dem eigenen dient: Nur wenn es dir gut geht, kann es auch mir gut gehen. Ich kann nur glücklich sein, wenn auch der Partner glücklich ist. Altruismus und Egoismus schließen einander nicht aus, sondern decken sich sogar im höheren Sinne. Ich beziehe die Verantwortung für den anderen in die Strebungen meines Ichs mit ein. Wenn ich dem anderen diene, diene ich mir selbst. Der jüdische Religionsphilosoph Martin Buber hat einmal gesagt: "Das Gegenteil von Zwang ist nicht Freiheit, sondern Verbundenheit." Die Verantwortung füreinander, die Verbundenheit, macht Vereinbarungen erst möglich.
Das Gleiche gilt für Arm und Reich Gegensätze, die ja in der Bibel nicht geleugnet, aber durch die Verantwortung füreinander überbrückt werden: Der Starke ist für den Schwachen verantwortlich, der Reiche hat seinen Besitz nicht gegen, sondern für den anderen. Dies schließt Lebensgenuss und Freude nicht aus. Im Gegenteil, er erkennt sie auch bei anderen an. So wird nicht etwa soziales Verhalten aus Mitleid gefordert. Die Bedürfnisse des anderen werden anerkannt, nicht nur seine Bedürftigkeit. Darum muss moderne Sozialpolitik von Rechtsansprüchen ausgehen, nicht von Gnade und Barmherzigkeit der Besitzenden. Sonst wäre das Gebot, den Nächsten wie sich selbst zu lieben, allzu einseitig verstanden.
Als reines Ideal erweist sich das Liebesgebot als lebensfeindlich. Selbstverneinung und Askese, Lustfeindschaft und Weltentsagung sind nicht das, was das menschenfreundliche Liebesgebot meint. Vielmehr sind die Folgen solcher Vereinseitigungen verheerend: Entfremdung von Kirche und Welt, Diffamierung der Lebensfreude, vergeblicher Kampf gegen Fortschritt und Freiheit und eine wenig überzeugende Christlichkeit, von der Nietzsche sagen konnte: "Erlöster müssten mir die Christen aussehen, wenn ich ihrem Erlöser glauben soll."
Die moderne Sozialpsychologie hat den Zusammenhang von Selbstliebe und Nächstenliebe oder ins Gegenteil verkehrt von Frustration und Aggression neu ins Licht des Bewusstseins geholt. Mit einfachen Worten: Lieben kann nur, wer Liebe erfährt. Wer von Kindheit an seine leiblichen und seelischen Grundbedürfnisse erfüllt bekam, wird meistens ein erfreulicherer Zeitgenosse und hat es leichter zu lieben als der, der darum betrogen wurde. Wer Gutes erfahren hat, wird leichter Gutes erweisen. Dies gilt von allen Gaben Gottes, auch den ganz elementaren: von der Muttermilch der Säuglinge bis zur Monatsrente der Senioren.
Wir wissen heute, dass Aggressivität eine ihrer Hauptwurzeln in Enttäuschungen hat. Wer vernachlässigt und abgelehnt, misshandelt und erniedrigt wurde, ist mit Nächstenliebe überfordert. Heißt es nicht auch in der Bibel: "Überwindet das Böse mit Gutem!"? Dies ist nicht nur eine hohe ethische Forderung, sondern ein realistischer Vorschlag, denn womit sollte das Böse sonst überwunden werden? Das Gute, das wir einem tun, ist alles, was wir ihm an "Gütern" zuwenden und was Gutes in ihm bewirkt. Dieses begründet den "ökonomischen" Kreislauf der Nächstenliebe vom Ich zum Du, vom Du zum Ich. Hier muss es fließen wie in einem lebendigen Kreislauf. Sonst pulsiert kein Leben, keine Liebe, und alles bleibt papieren und blass. Wirklich füreinander da sein macht Freude, Gutes kommt zurück. Ich spüre, wie es mir gut tut, anderen Gutes zu tun. Und das ist auch gut so.
Das meinen Leserinnen und Leser
Vor sechs Jahren steckte ich in einer schweren Lebenskrise. Besonders nachts quälten mich Ängste, Selbstzweifel. In dieser Zeit kam meine Freundin jeden Tag nach der Arbeit zu mir und verbrachte die schlimmen Nächte an meinem Bett. Ich versprach, dass ich, wenn sie mal krank würde, auch Trost spenden würde. Vier Jahre später verunglückte sie mit dem Auto. Während der sechs Monate, die sie im Wachkoma lag, konnte ich mein Versprechen einlösen, in der Hoffnung, dass sie es wenigstens einmal wahrnimmt.
Annemarie Schwarz,
48 Jahre, Düsseldorf
Schon in der Jugend geriet ich an den Ausspruch des großen Philosophen Adorno: "Geliebt wirst du einzig, wo schwach du dich zeigen darfst, ohne Stärke zu provozieren." Dieser edle Spruch ist mir stets Kriterium bei der Auswahl und Beurteilung von Menschen, die mir was bedeuten, denen ich nahe sein will. Gelegentlich bin ich in Frankfurt. Dann lege ich stets als kleinen Dank eine Blume auf Adornos Grab. Kitschig? Nein! Notwendig!
Klaus Türk, 58 Jahre,
Braunschweig
Da sein, darauf kommt es an. Präsent sein mit allen Sinnen. Sich ein Fühlen schenken ohne ein Schmeicheln, Dringen oder Fordern. Zeigen, dass ich höre. Sagen, was ich spüre. Nehmen, was du loslässt. Geben, was du noch nicht hast. Für ein Ander oder für ein Ich? Die Grenzen verblassen auf agaperotem Hintergrund.
Ulrich Klink, 46 Jahre,
per E-Mail
Kürzlich in Hamburg: Ein Kinderwagen wird zwischen den U-Bahn-Türen eingeklemmt. Knapp vor der Einfahrt in einen Tunnel zieht ein Mädchen den Kinderwagen in den Zug. Die Erwachsenen verharrten reglos. Dieses Beispiel zeigt, dass es mit dem Füreinander- da-Sein in dieser Zeit nicht weit her ist. Sind wir eine Gesellschaft von Einzelwesen, die wie Hermann Hesse schreibt "einsam im Nebel wandeln und den Anderen, den Mitmenschen, nicht sehen"?
Wolfgang Bremer, 41 Jahre,
Hamburg
Man sollte es lassen, seine Mitmenschen um jeden Preis zu bedienen. Sonst macht man sich zu ihren Sklaven, und man verwöhnt sie, das heißt man verdirbt sie. Ein "Füreinander-da-Sein" kann aussehen wie ein Gegeneinander. Oft ist Hilfe durch Nichthilfe die wahre Hilfe. Ein wahrer Freund macht sich nie zum Komplizen. Er ist konstruktiv kritisch, und er frisst niemanden vor Liebe auf.
Gerd Rohde, 67 Jahre,
Rodenbach
Wenn ich nicht mehr für andere da sein kann, will ich dann überhaupt noch da sein? Jetzt bin ich Jungrentnerin, kann ab und zu für meine Enkel da sein. Doch eines Tages werden meine Kräfte schwinden. Dann werde ich Hilfe brauchen und deswegen ein schlechtes Gewissen haben. Meine Tochter wird dann hoffentlich eine Arbeit haben, vielleicht auch schon Enkel, die sie brauchen. Davor graust mir.
Helga Lorenz, 63 Jahre,
Dresden
Füreinander da sein hat mit Freiheit und Liebe zu tun. Wenn ich jemanden liebe, habe ich sensible Antennen und spüre, wann er mich braucht. Wenn ich für jemanden da sein muss, weil er es erwartet, wird es mir schwer fallen, ja, ich werde vielleicht sogar Aggressionen entwickeln.
Barbara Oschmann,
40 Jahre, Hammelburg
Im Vertrauen
Jeden Monat laden wir Sie, liebe Leserinnen und Leser,
ein, uns Ihre Erfahrungen zu einem vorgegebenen Thema
mitzuteilen. Schildern Sie Erlebnisse und Begegnungen,
lassen Sie uns an Ihren Beobachtungen teilhaben!
Das Thema des Monats März: Neugier
Schon wieder eine neue Kollegin? Wieder ein anderes Computersystem? Noch mal eine neue Ausbildung? Flexibel sollen wir sein, aber manchen ist jede Veränderung zu viel. Andere sind süchtig danach. Wie weckt man Neugier? Und wann vergeht uns die Lust?
Zu diesem Thema schreiben Sie uns bitte, mit Angabe Ihres Alters, bis zum 31. Januar
chrismon
Stichwort: Im Vertrauen Postfach 203230, 20222 Hamburg, E-Mail: im-vertrauen@chrismon.de