Es ist ein Unterschied, ob das Reich Gottes nahe oder schon gekommen ist. Luther lässt an dieser Stelle das Wort "nahe" aus, weil für ihn Jesus als Person die Herrschaft Gottes verkörpert. In seiner Hilfe für Kranke, seiner Zuwendung zu Armen und seinem Zuspruch für Verzweifelte bezeugt Jesus Gottes Liebe. In seinem schrecklichen Tod und seiner Auferstehung zeigt Gott, wie er in dieser Welt der Ungerechtigkeit und des tödlichen Leidens herrschen will.
Indem Luther das Wort "nahe" auslässt, betont er die Gegenwart Gottes und hebt die Spannung auf, die sich eigentlich mit der Wendung "nahe kommen" andeutet. Der vollständigere Satz lässt Raum für die Erfahrung, dass die Herrschaft Gottes noch nicht vorhanden ist. So wird das Erleben von Unrecht und Elend in dieser Welt nicht ausgeblendet. Gerade weil das Böse nicht zu übersehen ist, hoffen und bitten wir für uns und unsere Mitmenschen: "Dein Reich komme!"
Zum Gottvertrauen gehört beides: dass man sieht, wie anderen und einem selbst Böses zustößt. Und dass man gleichzeitig für das Leben und für Hilfe in der Not dankbar bleibt und Gottes Nähe erkennt. Beides anzuerkennen, kann eine große Herausforderung sein.