Acht Wochen lang lag Ana Laura López auf einer Matratze in der Wohnung ihrer Freundin in Mexiko-Stadt. Sie aß kaum, und wenn ihre Schulfreundin aus Kindertagen sie fragte: „Kommst du wenigstens mit vor die Tür?“, schüttelte sie den Kopf und drehte sich wieder um. Nach acht Wochen schob sich vor die Frage „Warum ich?“ eine andere: „Was nun?“ Ihr wurde klar: Tränen bringen sie nicht zurück in die USA. Und Ana stand auf.
Heute, vier Monate später, wohnt die 41-Jährige in ihrer eigenen Mietwohnung, eröffnete ein Café sowie eine T-Shirt-Druckerei und fährt regelmäßig zum Flughafen von Mexiko-Stadt, um Rückkehrer in Empfang zu nehmen, Mexikaner, die aus den USA abgeschoben wurden. Wie Ana.
Noch immer sagt sie: „Alles, was ich will, ist in Chicago.“ 16 Jahre lebte Ana im Norden der USA, kümmerte sich um die Rechte von Einwanderern, heiratete einen US-Amerikaner, bekam zwei Söhne – nun ist dies alles 3000 Kilometer weit weg. Und unerreichbar für Ana.
Ausweisung ohne Rückflugticket
Beamte der Immigration and Customs Enforcement, kurz ICE, fragten sie nach der Aufenthaltsgenehmigung, ausgerechnet als sie nach Mexiko fliegen wollte, um Urkunden zu besorgen. Um endlich ihren Status in den USA zu legalisieren. Zwanzig Minuten später, sagt Ana, saß sie im Flieger Richtung Mexiko-Stadt. Mit ihrer Ausweisung und ohne Rückflugticket. Nun muss die Mexikanerin, die fast die Hälfte ihres Lebens in den USA verbracht hat, neu anfangen. Sie ist zurück in ihrer fremden Heimat.
Dreimal pro Woche landen die Maschinen auf dem internationalen Flughafen Benito Juárez, Terminal 2, Gate N. Und jeder der 135 Plätze in den weißen Bundesmaschinen der USA ist besetzt mit Abgeschobenen. Auf manchen von ihnen wartet bereits die mexikanische Polizei, doch für die meisten heißt es: Bienvenidos a Mexico.
Seit 2008 schicken die USA jährlich durchschnittlich etwa 300 000 Einwanderer zurück in ihr Geburtsland. Unter Präsident Obama konzentrierten sich die Abschiebungen auf Verurteilte, Gefährder der öffentlichen Sicherheit und Migranten, die an der Grenze festgenommen wurden. Unter Präsident Trump soll diese Politik vorbei sein. Alle Mexikaner und Zuwanderer stehen im Fokus der amerikanischen Abschiebebehörde. Wer in den USA keine gültigen Aufenthaltspapiere vorzeigen kann, dem droht die Abschiebung.
"Ich war wie tot"
Die Trennung von der Familie, die Abschiebung, die Erniedrigung durch die Grenzbehörden, all dies setzt den Rückkehrern enorm zu. Über ihre ersten Wochen zurück in Mexiko-Stadt sagt Ana nur: „Ich war wie tot.“
Trotzdem bringen die Rückkehrer etwas mit, das die Regionalregierung von Mexiko-Stadt nutzen will: Wissen und Erfahrung. Über 70 Prozent der Rückkehrer sind zwischen 29 und 49 Jahre alt, fast ausschließlich Männer mit einer durchschnittlichen Aufenthaltsdauer in den USA zwischen 15 und 20 Jahren, so eine Studie des Arbeitsministeriums. Die Zuwanderer haben sich als Köche, Bauarbeiter oder Elektriker in den USA behauptet. Sie waren Manager, hatten eigene Firmen. Kurz: Sie haben Know-how.
Seit fast sechs Monaten sammelt Amalia García Medina, Arbeitsministerin der Regionalregierung, Kontakte zu den Firmen der Stadt. Computer, Gastronomie, Hotels. Branchen wie diese, da ist sich die 66-Jährige sicher, können von dem Fachwissen und der angelernten Arbeitsmoral aus den USA nur profitieren. Und ihr Ministerium hilft. Bleiben sie in Mexiko-Stadt, haben die Rückkehrer nicht nur Anspruch auf sechs Monate Finanzhilfe in Höhe von insgesamt 660 Euro. Sondern können an extra aufgelegten Trainingsprogrammen teilnehmen oder Gründungszuschüsse zur Selbstständigkeit beantragen. „Die Rückkehrer wollen hier schnell Arbeit finden. Und je mehr und je genauer wir wissen, was sie können, desto einfacher. Für beide Seiten“, sagt Medina.
Patrick Witte
Janine Worlikar
Als Ana endlich aus der Wohnung ihrer Freundin trat, war es noch Vormittag und schon heiß, stickig, laut. An der Bushaltestelle vor ihr prügelten sich zwei Betrunkene, Plastikmüll strandete an ihren Beinen. „Ich dachte nur: Okay, du bist wirklich zurück.“ Ana hatte zwei Ziele: ein Gebet in der Basilika der Jungfrau von Guadalupe. Und das Arbeitsministerium. Eigentlich nur für die Finanzhilfe, die jedem Bewohner von Mexiko-Stadt, egal welcher Herkunft, für sechs Monate zusteht. Dort traf Ana andere Abgeschobene. Aus Seattle, New York, Virginia, den gesamten USA. Schicksalsgenossen. Sie erzählten Ana vom Programm der Regierung. Von geplanten Trainingsprogrammen. Von der Hilfe zur Selbstständigkeit.
Ein Jahr lang stellen die Beamten Geräte zur Verfügung, sollte sich ein Deportierter entscheiden, ein eigenes Geschäft zu eröffnen. Sägen und Hobel für Tischler, eine Küche samt Herd und Pfannen für Köche. Alles, was man brauche, sei eine Idee. Und ein Businessplan. Trägt sich das Geschäft nach einem Jahr selbst, kann man die Geräte behalten, weitermachen, eigenes Geld verdienen. Ana hörte aufmerksam zu. Und dann ging alles ganz schnell.
In wenigen Tagen gründete sie mit den anderen abgeschobenen Mexikanern eine Gruppe, die Deportados Unidos En La Lucha, sie zogen selbst gedruckte Anti-Trump-T-Shirts an und gingen durch die Stadt, um mit Bonbons auf sich aufmerksam zu machen. Doch statt Süßem wollten die Leute ihre T-Shirts. „Woher habt ihr die? Wo können wir die kaufen?“ Und plötzlich hatte das Kollektiv eine Idee. Und damit ein Ziel. Ana sagte den Leuten: „Die T-Shirts könnt ihr bald bei uns kaufen.“
Die Hauptstadt boomt
Arbeitsministerium, Calle José Xocongo. Nahe der Altstadt von Mexiko-Stadt schaut Ministerin Amalia García Medina aus den Fensterfronten ihres Büros im obersten, elften Stock des Secretaria de Trabajo y Fomento al Empleo auf ihre Stadt und sieht vor allem: Möglichkeiten.
Nur 3,9 Prozent betrage die Arbeitslosenquote aktuell, berichtet Medina, eine der geringsten der letzten Jahre. Hightechfirmen haben ihre Mittelamerikazentralen in der Metropole Mexiko-Stadt angesiedelt: Google, Microsoft, Dell. Und sie suchen ausgebildetes Personal. Gute Nachrichten für Medina, die seit ihrem Amtsantritt im Juli 2015 die Neuausrichtung des Arbeitsmarktes steuert. Trotz aller Probleme wie Korruption und Kriminalität wird sie nicht müde, „la ciudad“ als Boomtown zu präsentieren. 20 Prozent aller neuen Jobs landesweit würden in Mexiko-Stadt entstehen, über 130 000 allein im Jahr 2016. Welche Jobs gibt es für die Abgeschobenen aus den USA?
Nur 500 Rückkehrer, Stand Anfang 2018, nehmen an Medinas Programm teil. Medina weiß, dass die Zahl der Rückkehrer unter dem neuen US-Präsidenten noch nicht angestiegen ist. Und dass auch Obama in den acht Jahren seiner Amtszeit mehr als drei Millionen Mexikaner abgeschoben hat, wenn auch leiser und mit weniger Hetze, wie sie findet.
"Viele sind wütend, haben Angst und wollen mit keinem reden"
Medina erwartet schon bald wesentlich mehr Abschiebungen. Texas hat Ende April 2017 den Status von „sanctuary cities“ im ganzen Bundesstaat aufgehoben: Jede Weigerung lokaler Behörden, mit den ICE-Agenten zusammenzuarbeiten, ist unter Strafe gestellt. Und Medina war lange Jahre als Gouverneurin des Bundesstaats Zacatecas selbst zuständig für Migranten und Abgeschobene. Sie kennt ihre Schicksale, spricht von Angst und Wut derer, die direkt aus dem Abschiebegefängnis kommen oder auf der Straße von ICE-Agenten verhaftet werden. Ohne Abschied von ihren Kindern, ohne den letzten Lohnscheck einlösen zu können, landen sie mit kaum mehr als Brieftasche, Uhr und Handy in Mexiko. Bereits am Gate händigen NGOs und Abgeschobene wie Ana und Gustavo Zettel mit Kontakten und Ansprechpartnern aus.
Auch Medinas Mitarbeiter verteilen Infos über das Arbeitsprogramm der Stadtregierung. „Wir lassen sie wissen, dass wir ihnen helfen. Viele sind wütend, haben Angst und wollen mit keinem reden. Nach vier, fünf Tagen kommen sie dann in eines unserer 16 Büros“, sagt Medina. Vor allem wegen der Finanzhilfe. Auch Medina will etwas von den Abeschobenen: ihr Wissen. „Die Rückkehrer haben in den Städten der USA nicht nur auf einem hoch spezialisierten Arbeitsmarkt Erfahrungen gesammelt. Sondern auch das US-amerikanische Arbeitsethos angenommen, viele sprechen fließend Englisch“, sagt Medina.
500 Millionen Pesos, umgerechnet fast 24 Millionen Euro, beträgt Medinas Gesamtbudget. Aus ihm muss sie auch die Grundversorgung wie die Förderung der Rückkehrer finanzieren. „Wir müssen ihnen Arbeit und damit Unabhängigkeit verschaffen“, sagt Medina, „dann haben wir unsere Arbeit getan.“ Medina weiß aber auch: Die Politik kann nur die Rahmenbedingungen gestalten. Für den Rest müssen die Unternehmer sorgen. Und die Rückkehrer.
Ana gründet eine T-Shirt-Druckerei
Ana und die Männer der Deportados Unidos arbeiten mit Malerrolle, Spachtel und Schleifpapier an ihrer Zukunft. In einem ehemaligen Laden für Feuerlöscher mitten im Bezirk Santa Maria weißeln vier Männer Wände und Decken für ihre geplante T-Shirt-Druckerei. Nahe dem Flughafen entsteht zwischen einem Tacoladen und Getränkeshop außerdem ein Café. In wenigen Tagen werden die Lkw mit den Maschinen und Geräten vorfahren – mit Druckern und Heizpresse und Kaffeemaschine und Mixer – alles für ein Jahr.
Anwesend ist geballtes Fachwissen: Maler, Schweißer, Tischler. Dazu Ana, die Aktivistin für Migrantenrechte, ein Profi in Sachen Kommunikation und Öffentlichkeitsarbeit. Das waren sie zumindest in den USA. In Mexiko sind sie: niemand. Bevor sie sich zum Schritt in die Selbstständigkeit entschlossen, haben auch sie einen Blick auf den mexikanischen Arbeitsmarkt geworfen. Und wurden blass.
Gustavo fand einen Job über einen Freund und nähte in einer Hinterhofgarage Sohlen an Sportschuhe. Wochenlohn: 280 Pesos, 12 Euro. Diego Miguel Maria, Alter 37, zwölf Jahre Gabelstaplerfahrer in Georgia, suchte zurück in Mexiko wochenlang nach einem Job, ob auf dem Bau oder als Anstreicher. Vergeblich. Sein Fazit: „Bist du über 35 Jahre, wird es in Mexiko ganz schwer.“ Und Ana? Ihr erster Job in den USA war in einem Secondhandladen, dann in einer Süßigkeitenfabrik und schließlich bei einer NGO in Chicago. 22 Dollar verdiente sie dort pro Stunde. Doch diesen Job gibt es in Mexiko nicht. Ihre erste Option: zurück in eine Fabrik zu 80 Pesos Lohn, vier Euro. Pro Tag.
70 Unternehmen arbeiten mit der Ministerin zusammen
„Ich kenne ihre Gesichter“, sagt Adrián Peña Cervantes, „wenn die Rückkehrer hören, wie viel sie in Mexiko verdienen.“ Cervantes ist Drohnenhersteller und einer von 70 Unternehmern, mit denen Arbeitsministerin Medina Jobmöglichkeiten für die Rückkehrer bespricht. Heute bereitet Cervantes seinen Workshop vor, eine Präsentation, auf der er seine selbst gebauten Drohnen und ihr Arbeitsfeld vorstellt. Er schraubt an Propellern und überprüft Kabelverbindungen, bevor das Publikum den Vortragsraum betritt.
In seiner Firma selbst arbeiten neun Angestellte, darunter ein Rückkehrer, und der Chef – damit ist Cervantes drei Nummern kleiner als Microsoft oder Callcenter wie Teleperformance mit ihren fast 5000 Angestellten. Deren Interesse an den Rückkehrern aus den USA ist offensichtlich: Sie suchen Sprachkenntnisse und US-amerikanische Servicementalität.
Doch auch für sein Unternehmen sieht Cervantes große Chancen. „Wir sollten das Wissen und das Potenzial dieser Leute nicht verschleudern“, sagt er. Und wenn es wirklich einen Re-Import von Wissen und Erfahrung aus den USA nach Mexiko gibt, sind es ganz besonders Unternehmer wie Cervantes, die von diesem umgekehrten Braindrain profitieren. Denn seine Branche, schätzt der 47-Jährige, hänge den USA technisch fünf Jahre hinterher. „Ich brauche Leute mit Erfahrung und Wissen in meiner Firma.“
Chinaschrott statt moderne Technik, Zentimeter statt Inches
Über das Wissen und Können der Rückkehrer macht Cervantes sich keine Sorgen. Was die Mexikaner allerdings wieder lernen müssen, ist: Mexikaner sein. „Die Leute arbeiteten in den USA mit den besten Werkzeugen, nutzten Laser und moderne Maschinen. Hier erwarten sie Schrott aus China, Handarbeit und Zentimeter satt Inches.“ Gerade deren Lohnvorstellungen führten zu Spannungen mit den alteingesessenen Angestellten.
Denn viele Abgeschobene bringen nicht nur Wissen und Erfahrung made in USA zurück nach Mexiko, sondern vor allem: Dynamik. „Die Leute hier haben Mexiko nie verlassen“, sagt Ana und findet, dass Mexikaner nicht unbedingt Freunde von Veränderung sind. Sondern gelähmt von Korruption und Bürokratie. „Aber wir Migranten jagen einem Ziel nach. Wir wollen ein besseres Leben.“ In den USA hatten sie es bereits gefunden. Nun ist Mexiko-Stadt ihr Jagdrevier.
Vorurteile bleiben auf beiden Seiten. Auch Ana weiß, dass so manche Mexikaner die Rückkehrer als Verräter ansehen. Sie seien abgehauen und geflohen vor den Drogenkartellen, vor Korruption und Gewalt. „Doch unser Geld, das wir aus den USA schickten, haben sie gerne genommen“, sagt Ana. Sie mag ihr Land. Aber sie liebe Chicago. Ana ist wie fast alle Rückkehrer eine „Ni aquí ni allá“, eine „Weder-hier-noch-da“. Doch wo will sie hin?
Ana arbeitet für ihre Rückkehr in die USA
Für sie und fast alle Mitglieder der Kooperative sind die geplanten Läden auch ein Mittel zum Zweck. Zunächst. Sie sollen genug Geld abwerfen, damit sie Anwälte und Anträge auf eine Rückkehr in die USA bezahlen können. 17 000 US-Dollar, so sagt Ana, kosten saubere Papiere, die ein Visum und vielleicht sogar eine legale Aufenthaltsgenehmigung ermöglichen können. Dafür will sie arbeiten und kämpfen. „Ich habe ein Recht, zurück in die USA zu kommen“, sagt Ana, „ich bin keine Kriminelle, habe immer einen Job gehabt und Steuern bezahlt.“
Unter Trump allerdings erwartet sie in den nächsten drei Jahren keine Möglichkeit auf eine legale Rückkehr. Und bei einer erneuten illegalen Einreise drohen ihr bis zu 20 Jahre Gefängnis. Wenn es also nichts wird mit der Rückkehr, so räumt Ana ein, könne sie auch ihr Leben in Mexiko bestreiten. Zur Not. „Wir Migranten denken, dass wir alles schaffen, was wir wollen. Warum sollte es hier für uns anders sein als in den USA? Alles ist möglich.“ Und Ana zeigt auf ihr Tattoo am linken Unterarm. Dort prangt groß in geschwungener schwarzer Schrift nur ein Wort: „Believe“.