Was überrascht Sie?
Die jungen Leute. Es wird ja oft gesagt, sie hätte keine Ideale mehr, und dass sie unpolitisch seien. Aber das stimmt nicht. Ich unterrichte junge Leute und merke, dass die meisten keineswegs so indifferent sind. Sie regen sich darüber auf, wie mit Flüchtlingen umgegangen wird, benennen Ungerechtigkeiten und setzen sich für die Umwelt ein. Das freut mich!
Was ist das Wichtigste, was Sie Ihren Schülern mitgeben?
Claude K. Dubois
Warum die Gefühle?
Sie interessieren mich am meisten. Es gibt nichts Wichtigeres im Leben als die Beziehung zu anderen. Ich kann es nicht gut ertragen, dass es Menschen nicht gut geht. Ich möchte ihnen immer helfen. Den Flüchtlingen in ihrem großen Leid wie auch kleinen Kindern mit ihren Kümmernissen und Freuden. Ich versuche, sie in Zeichnungen umzusetzen, so dass meine Leser und Leserinnen besser verstehen, wie fragil wir Menschen eigentlich sind und so besser auf Andere achten.
Kinder denken oft, dass sie die Einzigen auf der Welt mit einem bestimmten Gefühl sind. In Büchern entdecken sie, dass sie damit nicht allein sind
Und Kinder sollen Ihre Gefühle in Büchern widergespiegelt finden?
Kinder denken doch oft, dass sie die Ersten und Einzigen auf der Welt sind, die ein bestimmtes Gefühl haben und sind unfähig, es auszudrücken. Aber in Büchern können Kinder entdecken, dass sie damit nicht allein sind. Sie wissen dann, dass auch Andere ihre Gefühle kennen und können vielleicht sogar mit ihren Eltern oder Erziehern darüber sprechen. Ich habe diese Einsamkeit und Sprachlosigkeit als Kind sehr stark empfunden.
Wie genau?
Wenn ich Angst hatte, dachte ich, dass es allen um mich herum gut ging, nur mir nicht. Ich war ganz alleine damit. Aber weil ich viel gelesen habe, habe ich dann verstanden, dass alle Menschen Gefühle wie Freude, Neugier, Schmerz, Angst und Verzweiflung kennen. Deshalb sind Bücher sehr wichtig. Heute arbeiten sogar Kinderpsychologen mit meinen Büchern. Sie sagen, dass sie sehr gefühlsgenau sind, wegen der skizzenhaften Zeichnungen aber auch viel Raum für das eigene Erleben lassen.
Woher wissen Sie, was kleine Kinder bewegt?
Ich bin wohl sehr sensibel. Mein Mann ist Arzt. Ich habe zwei Töchter und vier Enkelkinder. Und ich habe mich viel mit Gefühlen und Beziehungen beschäftigt, sie analysiert. Das Leben ist nicht immer einfach. Wenn ich nicht schon als Kind hätte zeichnen, mich hätte ausdrücken können, wäre ich gestorben.
So stark empfinden Sie das?
Ja. Ich zeichne nicht um der schönen Farbe oder Form willen. Zeichnen ist für mich wie schreiben. Aber mit Worten kann ich mich nicht so gut ausdrücken wie mit Bildern. Am Liebsten skizziere ich. Das ist wie das Leben. Nicht so festgelegt. Ich bin nie sicher, dass etwas genau so ist wie es ist. Es ist so, aber dann fällt das Licht anders und schon verändert es sich wieder. Das gilt für Mensch, Natur und Dinge. Alles ist ständig im Fluss.
Wie wird aus einem Gefühl ein Bild?
Es zeigt sich im Gesichtsausdruck. In der Haltung. In der Bewegung. In der Kunsthochschule arbeite ich auch heute noch nach Modell, - Aktzeichnen. Und ich habe früh angefangen. Mein Vater war auch Illustrator: Er hat als Werbegrafiker gearbeitet. Wenn ich mit ihm unterwegs war, hatte ich immer ein Skizzenheft dabei. Er hat mir auch das Aquarellieren beigebracht.
Mit „Akim rennt“ haben Sie sich plötzlich mit dem Thema Flucht beschäftigt.
Das Buch erzählt mit vielen Zeichnungen und wenig Text von einem kleinen Jungen, der seine Eltern im Krieg verliert und fliehen muss. Das Buch ist 2012 in Belgien erschienen, - also noch vor der Flüchtlingskrise 2015.
Wie kamen Sie auf das Thema?
Das hat mit meiner Familiengeschichte zu tun. Und natürlich auch mit der Aktualität. Kinder zu sehen, die leiden, ist unerträglich.
Was für eine Familiengeschichte?
Es war im zweiten Weltkrieg: Als meine Mutter fünf Jahre alt war, sind deutsche Soldaten ins Haus gekommen und haben ihre Eltern, also meine Großeltern, gefangengenommen: Sie waren in der Résistance. Die Soldaten sind einen Monat bei meiner Mutter und ihren Geschwistern geblieben, dann haben sie die Kinder alleine gelassen. Das hat meine Mutter traumatisiert. Sie hat ihre Eltern erst wiedergesehen, als sie zehn war – also nach fünf Jahren! Sie hatte ihr ganzes Leben lang Alpträume. Sie war heiter, aber tief innen sehr, sehr traurig. Sie hat immer wieder davon gesprochen.
Die Bilder zu zeichnen, hat jeden Tag wehgetan
Und das wollten Sie zeichnen?
Ja. Aber ich wollte eben nicht die Geschichte meiner Mutter erzählen, sondern eine Geschichte von allen Kindern in allen Kriegen überall auf der Welt. Und wie man da durch kommt. Ich wusste nur nicht wie. Es war erst möglich, als meine Mutter vor fünf Jahren gestorben ist.
Warum erst dann?
Vorher habe ich vielleicht zu sehr an ihre Geschichte gedacht. Wenn jemand stirbt, verändert sich ja oft etwas. Meine Mutter lebte nicht mehr, aber ihr Leid war sozusagen noch da. Die Bilder für „Akim rennt“ zu zeichnen, hat jeden Tag wehgetan. Aber es war auch toll, diese Not endlich ausdrücken zu können.
Wie meinen Sie das?
Ich wollte unbedingt, dass das Leiden meiner Mutter nicht verlorengeht. Und ich dachte, das könnte Anderen sogar helfen.
Wie das?
Die Geschichte sollte universell sein. Deshalb spielt sie auch nicht an einem bestimmten Ort. Das Fischerdorf, in dem Akim aufwächst, könnte überall sein. Ich wollte, dass Erwachsene verstehen, was der Krieg für Kinder bedeutet. Und dass Kinder verstehen: Auch wenn man so etwas erleben muss, kann man Kraft in sich finden. Dieser kleine Junge erlebt ein großes Unglück, ist sehr verzweifelt, sehr allein. Aber er findet immer wieder Menschen, die ihm helfen. Und einen kleinen Stoffhasen, der ihn tröstet. Er rennt. Er flieht. Er gibt nicht auf. Neulich hat mir übrigens ein Achtjähriger, dem ich das Buch vorgelesen habe, gesagt: Das ist meine Geschichte.
Ein Flüchtlingskind?
Nein, seine Eltern sind geschieden. Das hat er als Zerstörung erlebt. Aber das Buch hat sogar ihm geholfen, so universell ist die Geschichte tatsächlich. Das hat mir gefallen. Ich wollte ja auch kein verzweifeltes Buch machen.
Findet Akim deshalb zu guter Letzt auch seine Mutter wieder?
Erstmal: Die Mutter meiner Mutter ist ja tatsächlich auch nach dem Krieg zurückgekehrt. Aber ich wollte auch, dass das Buch halbwegs friedlich endet. Wenn das Ende zu schlecht ist, weinen Kinder doch nur und pfeffern es in eine Ecke. Aber mit diesem Schluss im Gemüt schauen sie es sich noch zweites Mal an und fangen dann an, Fragen zu stellen: Wie kann so etwas passieren? Was ist mit dem Vater passiert? Wird Akim in sein Dorf zurückkehren? Sie werden kreativ.
Engagieren Sie sich für Flüchtlinge?
Nicht direkt. Aber ich habe das Buch sehr oft vorgelesen und mit Kindern darüber gesprochen. Auch in Deutschland. Und ich habe gehört, dass es auch bei Flüchtlingskindern sehr gut ankommt. Auch bei erwachsenen Flüchtlingen. Man kann es ja auch verstehen, wenn man weder Deutsch noch Französisch kann. Die Zeichnungen sprechen für sich. Amnesty International und in Deutschland auch Pro Asyl unterstützen das Projekt: Am Schluss wird Akim ja im Lager aufgefangen. Die Rolle der Hilfsorganisationen ist positiv besetzt.
In Ihrem neusten Buch erzählen Sie von einem Obdachlosen - „Stromer“, schon wieder ein soziales Thema.
Wir sind wohl eine ziemlich soziale Familie. Meine Tochter Sarah hat intensiv mit Obdachlosen gearbeitet. Sie hatte die Idee zu dem Buch und hat den Text geschrieben. Und sie wollte, dass ich das Buch illustriere. Ich habe ja viel Innenschau in Familie, Kindergarten und Schule betrieben. Jetzt will ich mich mehr mit der Welt um mich herum beschäftigen.
Gab es dafür einen Anlass?
Das ist eine Entwicklung. Ich habe jetzt erst das Gefühl, dass ich mehr nach Außen gehen kann. Über meine Tochter habe ich einige Obdachlose kennengelernt und mich mit Ihnen unterhalten. Mit einem ist sie sogar befreundet. Wir haben ihm das Buch auch gezeigt. Wir wollten schon die Realität zeigen, aber es sollte auch nicht zu schrecklich sein. Wie bei „Akim rennt“ soll es Kinder ja nicht abschrecken, sondern etwas Verständnis für jemand wecken, der auf der Straße lebt.
Haben Sie beim Zeichnen auf irgendetwas besonders geachtet?
Ja. Das Gesicht der Mutter ist auf keinem Bild zu sehen. Sie hat das Kind an der Hand, sieht den Obdachlosen aber nicht. Das Gesicht des Obdachlosen verändert sich immer ein bisschen. Er bleibt unbestimmt. Bis das kleine Mädchen ihn anspricht. Die Geschichte spielt in Liège. Aber das sieht man nicht. Die Straßen und der Park: Das könnte überall sein. Einmal hat sich mein Mann für mich in eine karierte Decke eingerollt und auf den Boden gelegt. So konnte ich diese Haltung exakt einfangen.
Obdachlose sind für die meisten Menschen unsichtbar. Keiner schaut sie direkt an, keiner spricht mit ihnen
Warum spricht das Kind den Obdachlosen an?
Das ist der Clou der Geschichte. Das Kind gibt dem Obdachlosen im Park einen Namen. Es schaut ihn an und sagt in aller kindlichen Unschuld: "Du siehst ja aus wie ein Teddy!" Dahinter steht - und das wird auch in der Geschichte deutlich - dass Obdachlose für die meisten Menschen unsichtbar sind. Keiner schaut sie direkt an, keiner spricht mit ihnen. Durch das Kind fängt der Mann neu an zu existieren. Zumindest an diesem Tag. Bei dem kleinen Mädchen dachte ich an meine Enkeltochter. Sie ist acht.
Und sie glauben, das könnte sie gewesen sein?
Ja. Meine Tochter hat mir erzählt, dass sie vor ein paar Tagen im Supermarkt war und davor ein Obdachloser saß. Sie hat ihm etwas zu essen und zu trinken gekauft. Meine Enkeltochter hat darauf bestanden, es ihm selbst zu bringen. Sie hatte keine Angst. Sie hat gesagt: "Voilá Monsieur. Bon appetit!" Und danach – ganz stolz - zu ihrer Mutter: "Mama, war ich nicht nett zu ihm?"
Obdachlose können auch verwirrt und unberechenbar sein.
Natürlich sollten wir Kinder keiner Gefahr aussetzen. In der Geschichte ist die Mutter des Kindes immer in der Nähe. Und wir dürfen ihnen auch nicht unsere Probleme aufbürden. Aber Sarah, meine Tochter, sagt: "Kinder sind unsere Zukunft. Wir können ihren Blick und ihre Menschlichkeit schulen."
Fragen: Stephanie von Selchow
Auf der diesjährigen Frankfurter Buchmesse steht die französischsprachige Literatur im Mittelpunkt. In der Kinder- und Jugendliteratur sind viele französischsprachige Illustratoren von künstlerischem Rang vertreten.