Leise Ironie ist das nicht, was da gezeigt wird. Im Internationalen Museum der Reformation in Genf, einer kleinen, feinen Sammlung in der Genfer Altstadt direkt bei der evangelischen Kathedrale Sankt Peter, gibt es einen Themenraum „Polemik“. Da steht ein verglaster Schaukasten, in ihm sitzen mehr als ein Dutzend Reformatoren am Tisch, ihnen gegenüber die schauerlichen Vertreter einer anderen Kirche, der Papstkirche. Die Guten, das sind Luther, Melanchthon, Jan Hus, John Wyclif. Ihnen gegenüber ein Papst, gekrönt mit der Tiara, neben ihm ein Dämon mit langer Zunge, ein Mönch, ein Kardinal. Am Kasten vorn kann man an Messingknöpfen ziehen und die Köpfe der Personen wackeln, sprich: diskutieren lassen. Zwischen ihnen auf dem Tisch steht eine leuchtende Kerze, das Licht der Wahrheit. Das versucht - wer wohl? - der Papst auszupusten, gemeinsam mit dem Teufel. Wenn der Spottkasten auch neueren Datums ist, die Radierung „Der Leuchter“, die ihr zugrunde liegt, stammt aus dem 17. Jahrhundert.
Mehr als 300 Jahre später ist das nicht mehr als eine ironische Erinnerung. Olav Fykse Tveit, der Generalsekretär des Ökumenischen Rates der Kirchen (ÖRK), steht gleich daneben. Er ist gerade von einer Reise aus Lund zurückgekehrt und hat dort am Treffen des Papstes mit der Spitze der Lutherischen Kirche am 31. Oktober 2016 teilgenommen. Dämonen hatte der Bischof aus Rom bei seinem Schwedenbesuch nicht dabei und er hatte auch nicht versucht, der Wahrheit das Licht auszublasen. Tveit, der hunderte Kirchen der Reformation und Orthodoxie repräsentiert, sieht Papst Franziskus vielmehr als Mann des Dialogs und der Seelsorge, und sein Besuch in Lund hat bei ihm die Hoffnung verstärkt, dass die katholische Kirche eines Tages doch ein gemeinsames Abendmahl für katholisch-evangelische Ehepaare ermöglichen wird. „Uns Kirchen eint mehr, als uns trennt“, sagt dazu Heinrich Bedford-Strohm in Genf bei der Eröffnung der internationalen Reformationsfeiern, dem Tag, an dem auch der Reformationstruck auf den „Europäischen Stationenweg“ geschickt wird.
Das Geschichtenmobil rollt an
Genf ist mit seinen Reformatoren, unter anderem Huldrych Zwingli und Jean Calvin, weltweit mindestens so wichtig wie die in Deutschland geehrten Reformatoren Martin Luther und Philipp Melanchthon. Tveit sagt deshalb vor der Presse: Das Reformationsjubiläum sei ein globales Event, nicht nur ein europäisches.
Tveit ist auch der Theologe, der die originellsten Begriffe für den „Europäischen Stationenweg“ prägt. Er nennt sie „Wanderausstellung“ (was nicht ganz falsch ist, denn jeder der angefahrenen Orte soll digitale Dokumente seiner Reformationsgeschichte in die Rechner des Trucks einspeisen und diese können dort dann an Bildschirmen abgerufen werden). Er spricht auch von einer „Karawane der Entdeckungen“ – in Anführungszeichen - und von einer Pilgerfahrt und Wallfahrt. Gottfried Locher, der Präsident der Gemeinschaft evangelischer Kirchen in Europa (GEKE) und oberster Schweizer Protestant, nennt den Truck „Geschichtenmobil“ oder schlicht „den Lastwagen“. Heinrich Bedford-Strohm, der Ratsvorsitzende der Evangelischen Kirchen in Deutschland (EKD), spricht von einem „Geschichtenbuch“.
Der Seelöwe der Reformation
Während im Reformationsmuseum eine Minibibel von 1759 gezeigt wird, vielleicht 3 mal 5 Zentimeter groß, jedenfalls klein genug, dass sie eine glaubensverfolgte Hugenottin in einer Haarlocke verstecken konnte, steht draußen der ausladende Truck, hellblau gestrichen, mit Tieren und Protestanten bemalt. Er lässt sich zu einem ansehnlichen Veranstaltungsraum ausklappen. Der Kontrast könnte nicht größer sein. Und an die Stelle des Minibuches ist eine flächendeckende Wand voller Bildschirme getreten. Auf den Außenwänden und den Fahnen lädt ein Biber ein Mädchen zum Tanz, ein Braunbär diskutiert mit einem Wanderer, ein Seelöwe balanciert eine Weltkugel auf der Nase.
Sie haben sich einiges vorgenommen, die Volunteers und Organisatoren der Karawane. 25.000 Kilometer liegen vor ihnen, sie fahren in 19 europäischen Ländern 67 Orte an. Bis zu 15 Geschichten pro Station sollen die Kirchen vor Ort erzählen, aufnehmen, filmen und dem Truck mitgeben. Da kommt inhaltlich ganz schön was zusammen. Ob das auch dramaturgisch ersprießlich ist, muss sich zeigen. Da kommt viel Arbeit auf die Mitarbeiter des Trucks und auf die Zentrale in Wittenberg zu. Schaun wir mal.
Von Calvin zu Rousseau
Zur Eröffnung nun finden sich Kirchenspitzen, Honoratioren, Parlamentarier ein, unter ihnen auch der Genfer Bundesrat Alain Berset, in Deutschland am ehesten mit einem Ministerpräsidenten vergleichbar. So etwas gibt es nur in Genf: Fast jeder der Redner, die zum Beginn des Stationenweges auftreten, kommt auch auf den Schriftsteller und Aufklärer Jean-Jacques Rousseau zu sprechen. Auch Voltaire und Madame des Staël bekommen ihren Platz in den Reden. Woran man sieht: Die Schweizer lieben den großen historischen Bogen. Und die Reformatoren sind nur einige unter ihren großen Köpfen.
Es beginnen eben keine reinen Luther-Festspiele. Wie gut, dass zum Beispiel die Hussiten Tschechiens und die Reformierten der Schweiz früh auf die Bremse gestiegen sind, als das Reformationsjubiläum auf die Person Luthers hinauszulaufen drohte. Das Jahr 1517 mit dem Thesenanschlag Martin Luthers in Wittenberg ist in Genf weit weg. 1535 wäre für die Genfer Protestanten ein wichtiges Datum: Damals setzte der Rat der 200, der Vorläufer des heutigen Stadtparlaments, die katholische Messe aus und führte dadurch die Reformation ein. Die Versammlung aller wahlberechtigten Bürger, der Generalrat, hatte die Reformation proklamiert. Eine Reformation von unten, keine Fürstenreformation wie im Gefolge Luthers.
2017 soll kein Jahr für Nostalgie werden. „Wir feiern keinen Luther, keinen Zwingli, keinen Calvin, sondern wir feiern die Reformation“, sagt Gottfried Locher, der Präsident des Schweizerischen Evangelischen Kirchenbundes. Es gehe bei diesen Jubiläumsfeierlichkeiten nicht um Retrospektive und Lobhudelei über Einzelpersonen. „Die Reformation hat Kopf und Herz in Bewegung versetzt und die Welt verändert. Das feiern wir.“ Locher ist ein hoch gebildeter, urfröhlicher Reformierter, das Gesicht des europäischen Protestantismus. Ja, er will feiern im Jubiläumsjahr, nicht nur irgendwie gedenken. „Protestanten verstehen es durchaus, Feste zu feiern – und Genfer Protestanten erst echt.“
Die Schweiz wäre ohne die Reformation nicht die Schweiz von heute. Das lässt sich leicht erkennen. Von allen Städten des evangelischen Europa war Genf die häufigste Anlaufstelle für Glaubensflüchtlinge. Von 13.000 auf 20.000 Bewohner vermehrte sich die Bevölkerung allein in zehn Jahren, von 1550 bis 1560. Wirtschaftlichen Segen brachten die Protestanten ihrem neuen Heimatland. Von der Insel Rousseau in der Innenstadt aus sind sie alle zu sehen, die Flagship-Stores von Genf: Tiffany & Co., Bulgari, Chopard, Piaget, Louis Vuitton, Gübelin, Cartier, Hermes, Patek Philippe, Montblanc, Prada. Da kommt schon mal Dankbarkeit auf für die Erfindungsgabe der Uhrmacher und Unternehmer.
Die Reformierten als Freiheitsgesellschaft
Das Hauptwort der Genfer Eröffnungsfeier heißt: Freiheit. Locher sagt: „Wir Reformierte sind eine Freiheitsgemeinschaft.“ Ein Blick auf das Weltgeschehen zeige, „wie brüchig und bedroht diese Freiheit ist“. Die Gesellschaft sei bedroht von Extremismus und religiöser Intoleranz: „Aus unser eigenen Geschichte wissen wir nur zu gut, wohin das führt.“ In Europa seien Millionen von Menschen den christlichen Religionskriegen zum Opfer gefallen. „Wir können heute nicht feiern, ohne auch an diese Tatsache zu erinnern und ihr zu gedenken.“ Heinrich Bedford-Strohm, der EKD-Ratsvorsitzende, kann in Genf darauf hinweisen, dass es auch beim Europäischen Stationenweg evangelisch-muslimische Begegnung geben wird: Im niedersächsischen Stadthagen werde es am 29. November einen Friedensabend der Religionen geben.
Statt Retrospektive also eine „Perspektive für unsere Kirche, unsere Gesellschaft, unser Land“ (Originalton Locher). Eine „Einladung zur Erneuerung, nicht nur in der Kirche, auch im Staat und in der Politik“. So freundlich, wie Gottfried Locher diese Forderung vorbringt, könnte man fast vergessen, wie radikal sie in der Sache ist.