Mirjam Pressler
Schriftstellerin Mirjam Pressler: "Schuldgefühle fressen mich nicht mehr so auf wie früher."
Dirk von Nayhauß
"Ich hoffe, ich werde einmal sagen können: Es reicht, es ist genug."
Seit der Diagnose Brustkrebs hat sich bei Autorin Mirjam Pressler vieles geändert. Das wirkt sich auch auf ihre Träume für die Zukunft aus
Dirk von Nayhauß
Dirk von Nayhauß
26.11.2015

In welchen Momenten fühlen Sie sich lebendig?

Ich laufe viel am Fluss entlang, jeden Tag etwa sieben Kilo­meter, auch bei Eis und Schnee. Wenn ich mich bewege, funktionieren meine Gedanken besser und ich bin mehr bei mir. Ganz be­sonders liebe ich es in der Morgendämmerung am Meer. Am Strand werden so viele Sinne angesprochen – durch den Wind, den Geruch. Man merkt, wie klein man ist, aber man fühlt sich trotzdem nicht unbedeutend. Es ist dieses Gefühl, aufgehoben und Teil eines Ganzen zu sein.

Was können Erwachsene von Kindern lernen?

Ich habe drei Kinder, und ich habe sie sehr gewollt. Mutter zu sein und mit meinen Kindern zu leben war das Wichtigste in meinem Leben. Zuvor hatte ich nie zu irgendjemand so eine Nähe. Als Heimkind war ich es gewohnt, dass ich alles für mich mache und mich um niemand anderen kümmere. Das aber ist mit Kindern nicht zu machen, man muss sich auf sie einlassen und Verant­wortung übernehmen. Und: Einfach miteinander Spaß zu haben, das kannte ich nicht – so habe ich mit meinen Töchtern eine Form von Kindheit nachgeholt. Vorher hätte ich das nie gekonnt.

Welche Liebe macht Sie glücklich?

Am glücklichsten macht mich die Liebe der Kinder und meine Liebe zu den Kindern, dieses Ineinander-Verschwimmen. Natürlich muss man sich nicht zwangsweise lieben, nur weil man verwandt ist, doch wenn man es tut, hat es eine Vertrautheit, an die kein anderer herankommt. Aber auch die sexuelle Liebe macht mich glücklich. Und meine Katze. Alle Formen von Liebe.

Wie gehen Sie mit Schuldgefühlen um?

Sie fressen mich nicht mehr so auf wie früher. Mit dem Alter wird man sich selber gegenüber wohl duldsamer und gelassener. Ich weiß einfach, dass man nicht immer alles richtig machen kann. Es war ein schwerer Weg, an diesen Punkt zu gelangen. Zu Schuldgefühlen gehört auch immer Scham, und gerade diese Mischung ist schwer zu ertragen. Entweder man geht kaputt oder man schwimmt sich frei. Lange Zeit habe ich mich für alles geschämt. Ich hatte keine glückliche Kindheit. Ich hatte keine Eltern. Ich war arm. Ich habe sehr schlechte Erfahrungen mit Männern gemacht. Und immer habe ich mich schuldig gefühlt. Ich war über vierzig, als ich ein Buch mit Protokollen von Frauen gelesen habe, die Ähnliches erlebt hatten. Mein Leben lang hatte ich darüber geschwiegen. Ich habe daraufhin andere Frauen gefragt, ob ihnen das auch passiert ist – es waren sehr viele. Irgendwann habe ich gelernt, dass alles leichter ist, wenn man redet. Noch stärker als beim Reden ist es beim Aufschreiben: Man ist gezwungen weiterzugehen, man kann sich beim Schreiben nicht im Kreis drehen, dieses Formulieren macht die eigenen Gedanken klarer. Ich weiß heute: Egal, wie schlimm es gerade ist, es geht vorbei.

Haben Sie eine Vorstellung von Gott?

Nein. Ich halte ihn für eine Erfindung, die sich der Mensch gemacht hat – um mit diesem Leben fertig zu werden, das einem manchmal sinnlos vorkommen kann. Ich denke, viele brauchen Gott als Maßstab, als Vater, als jemanden, der sagt, wo es langgeht. Wobei ich die Zehn Gebote als völlig natürlich empfinde. Kein Mensch mit Empathie kann etwas gegen diese Zehn Gebote sagen, die trägt man irgendwo in sich.

Welchen Traum möchten Sie sich noch unbedingt erfüllen?

Ich habe keinen. Wenn ich zurückschaue, denke ich, dass ich alles gehabt habe, was ich wollte. Früher hatte ich ständig das Gefühl, woanders spielt sich das Leben ab und ich muss ihm nachrennen. Dabei bin ich oft auf die Nase gefallen. Vieles hat sich geändert, als ich vor neunzehn Jahren Brustkrebs hatte. Seitdem sehe ich klarer, was mir wichtig ist und was nicht. Das tägliche Glück besteht doch allein schon darin, dass ich aufwache und dass mir nichts wehtut. Ich freue mich auf meine Arbeit. Ich bin nicht allein. Ich kann selbstbestimmt leben. Mehr brauche ich nicht.

Muss man den Tod fürchten?

Als meine älteste Tochter klein war, hat sie mal gesagt: Jetzt bin ich ein Kind. Wenn ich genug Kind gewesen bin, werde ich ­Mama. Wenn ich genug Mama gewesen bin, werde ich Oma. Und wenn ich genug Oma gewesen bin, sterbe ich. Das wichtige Wort ist „genug“. Ich hoffe, ich werde einmal sagen können: Es reicht, es ist genug.

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