Der Budapester Ostbahnhof wurde in diesem Sommer zu einem Spiegelbild des Landes – im Guten wie im Schlechten. Als sich hier Tausende von Flüchtlingen sammelten, richtete der Staat in einer sogenannten Transitzone eine Wasserleitung und einige Toiletten ein, mehr nicht. Die Menschen sollten in die Aufnahmelager gehen. Das passte zu dem Ton der Schilder, die schon im Frühsommer an den Autobahnen standen: „Wenn du nach Ungarn kommst, dann nimm den Ungarn keinen Arbeitsplatz weg!“
###autor###Am Bahnhof passierte auch vieles, über das in den Medien kaum berichtet wurde: Viele Ungarn kamen zum Bahnhof, um zu helfen. Eine Hilfsorganisation mietete Räume, in denen Lebensmittel, Kleider und Decken abgegeben werden konnten. Gemeindeglieder sammelten Kleidung, kauften Lebensmittel ein und fuhren damit zum Bahnhof. Es hatte etwas geradezu Urchristliches an sich: Ihre Gaben wurden nicht von einer Organisation weitervermittelt, sondern von Hand zu Hand weitergegeben.
Auch aus dem Ausland kam Hilfe. Eine Hilfsorganisation aus der Schweiz etwa rief bei uns an und suchte ein Quartier für sechs Helfer. Der Lastwagen mit den Hilfsgütern sei bereits unterwegs. Ich ahnte es schon: Es waren charismatische Christen, die darauf vertrauten, dass der Heilige Geist ein Quartier besorgen würde. Ich traf sie ein paar Tage später auf dem Bahnhof. Die Diakonie hatte sie untergebracht.
Als ich am Vorabend des 4. September, jenem Tag, als tausend Flüchtlinge zu Fuß in den Westen aufbrachen, am Bahnhof war, bot sich mir ein geradezu friedliches Bild: Die Kameras waren ausgeschaltet, die Flüchtlingsfamilien hatten gegessen, kleine Kinder fuhren mit den typisch ungarischen Plastikdreirädern durch das Bahnhofsgelände. Studenten hatten eine Leinwand aufgebaut und zeigten Kindern einen Zeichentrickfilm. Erwachsene standen in einer großen Gruppe zusammen und sangen ihre Lieder. Wenn ich daran denke, dass sie am nächsten Morgen aufgebrochen sind, dann erinnert mich dieser Abend ein wenig an das Passahfest des Volkes Israel in Ägypten...