Der Bürgermeister. Wenn wir ihn nicht hätten! Er kämpft für Kindergärten und Kulturhäuser und überhaupt für die Kommune. Er genießt Respekt bei den Honoratioren und ist allen seinen Bürgern ein gemeiner Mann. Rund um die Uhr. Und manchmal ist er auch eine starke Frau
Tim Wegner
07.10.2010

Die Hauptperson kommt zu Fuß, unauffällig, wie ein Spaziergänger. Trotzdem flüstern sie auf einmal, vorne in den ersten Stuhlreihen vor dem Ulmer Schwörhaus. Da haben die Honoratioren Platz genommen ­ Minister außer Dienst, Offiziere der Bundeswehr, Verbandschefs, Stadträte, Unternehmer, jeweils mit Partner oder Partnerin, eingehüllt in Wolken aus Parfüm und Rasierwasser. Einigen streicht Ivo Gönner, 55, kurz über den Oberarm, andere drückt er. Nur einfach jemandem die Hand geben, das passt nicht zu ihm, er muss zupacken, gerade heute, am Schwörmontag, dem wichtigsten politischen Tag der Ulmer. Da erneuert der Oberbürgermeister seinen Amtsschwur, immer am vorletzten Montag im Juli.

Seit 1992 ist Ivo Gönner Oberbürgermeister in Ulm. Einmal ist der SPD-Politiker bereits wiedergewählt worden, sein CDU-Gegenkandidat kam 1999 nur auf 14 Prozent, und das in Baden-Württemberg. Aber Bürgermeisterwahlen sind Personenwahlen. Hans-Uli Thierer, Lokalchef bei der Ulmer "Südwest Presse", bemüht sich, nicht parteiisch zu klingen, wenn er Gönner eine Ausnahmeerscheinung nennt. Bis nach Berlin ist dieser Ruhm schon gedrungen. Nach Gönners Wiederwahl vor fast acht Jahren stand der Journalist in Hörweite, als Gerhard Schröder am Telefon darauf drängte, Gönner solle eine stärkere Rolle in der baden-württembergischen SPD übernehmen. Aber der wollte in Ulm bleiben.

"Ulmer Spatza, Wasserratza!"

Die Schwörfeier auf dem Weinhof ist der Beginn eines Volksfestes, das nachmittags an der Donau weitergeht, des "Nabada", auf Hochdeutsch: "Hinunterbaden". Hunderte Wassergefährte treiben den Fluss hinab, viele sehen aus wie Mottowagen beim Kölner Karneval. Ivo Gönner fährt auf einer "Ulmer Schachtel", einem einfach gebauten Schiff. Früher schipperten "Ulmer Schachteln" bis zum Schwarzen Meer, heute sind sie Folklore. In Jeans und Hemd steht der Bürgermeister an Deck, eine Schirmmütze schützt ihn vor der Sonne. Wenn die Menschen am Ufer ihr "Ulmer Spatza, Wasserratza!" anstimmen, ruft er so kräftig "Hoi, hoi, hoi!", dass man ihn noch am Ufer hört.

Dort, im Schatten eines großen Baumes, sitzt Heinz Lang an der Donau. Ein echter Ulmer, seit dem Krieg hat er noch kein Nabada verpasst. Über seinem gelben Hemd baumelt ein Fernglas. Immer wieder springt er auf, ruft "Ulmer Spatza, Wasserratza!" und wartet auf das Echo. Er mag den Gönner. Warum? Heinz Lang könnte nun die Erfolge herunterbeten, die Ivo Gönner vorhin in seiner Schwörrede aufgezählt hat. Er könnte es Gönner zuschreiben, dass im Wissenschaftspark 2500 Arbeitsplätze entstanden sind. Er könnte den Oberbürgermeister dafür loben, dass er im Gemeinderat die Mehrheiten für das neue Haus der Stadtgeschichte organisiert hat. Aber er mag ihn aus anderen Gründen. "Der Gönner ist leutselig. Deshalb kann er auch die Not am besten rüberbringen."

Den Bürgermeister kennt man in der Stadt. Er hat keine Angst vor Verantwortung, er ist ansprechbar, immer. Zu so viel Nähe muss man berufen sein. Sprachgeschichtlich bedeutet "Meister" so viel wie "Anführer". Das verrät viel über die Bedeutung, die Städte einmal hatten, als Zentren des politischen Lebens. Seit den Neunzigerjahren verkörpern Bürgermeister in Deutschland diese Geschichte wieder stärker. Die süddeutsche Ratsverfassung setzte sich auch außerhalb von Baden-Württemberg und Bayern durch, wo das Volk die Bürgermeister schon länger in direkter Wahl wählte. Nach der Wende übernahmen die neuen Länder die Direktwahl. Die westdeutschen Flächenländer kamen unter Druck und zogen nach. Ein Machtzuwachs für das Amt: In Brüssel und Berlin haben die Experten das Sagen ­ im Lokalen die Bürgermeister.

Probleme motivieren Ivo Gönner

Probleme motivieren Ivo Gönner. "Die hat es in der Geschichte der Städte immer gegeben", erklärt er mit seiner tiefen Stimme, die so wirkt, als würde er aus einem dicken Buch vorlesen, "denken Sie an die Pest, an große Brände, an Kriege." Und heute sei es nun mal so, dass die Städte viele Aufgaben, aber wenig Geld hätten. Für Gönner ist das die Herausforderung, seine Mission: "In historisch gewachsenen Bürgerstädten wie Ulm entsteht immer wieder ein Geist, sich an den eigenen Haaren aus dem Sumpf herauszuziehen."

Diesen Geist will er wecken, dafür muss er vorangehen. Der Ulmer Oberbürgermeister ist viel zu Fuß unterwegs. Oft kommt er mit einer Handvoll Zetteln wieder, mit Beschwerden oder Anregungen, die arbeitet er dann alle ab. "Nie vermittelt er den Menschen, dass er über ihre Belange hinweggeht, kaum einen Termin bei Vereinen, Geburtstagen oder Jubiläen delegiert er an seine Stellvertreter", sagt Hans-Uli Thierer von der Ulmer "Südwest Presse". Manchmal sei das nahe dran am Populismus. Außerdem ist es in einer Stadt mit mehr als 120 000 Einwohnern kaum zu schaffen, das gibt Gönner selbst zu. "An der Erziehung unserer beiden Kinder habe ich fast keinen Anteil. Wenn ich im Urlaub mal zu Hause bin, braucht es eine Zeit, bis ich wieder aufgenommen werde."

Gönners großes Thema sind Bürgerstiftungen. Er wünscht sich, dass die Menschen der Stadt etwas von ihrem Wohlstand zurückgeben und sich engagieren. Der Bürgersinn hat in Ulm Tradition. Vor 150 Jahren haben sich die Ulmer ihren Bahnanschluss erkämpft. Daran will Gönner anknüpfen. Seine Schwörrede ist gespickt mit Dankesworten in allen Variationen. Er dankt der Feuerwehr, den Kul- tureinrichtungen, alle sollen sich wiederfinden, alle sollen weitermachen. Die Menschen lieben das. Auf dem Ulmer Weinhof herrscht eine erwartungsvolle Stille, und wenn Gönners Stimme eine kurze Pause macht, hört man sogar das Rauschen der Bäume und das Plätschern des Brunnens. Als der Oberbürgermeister am Ende seiner Rede zum Schwur ausholt, knufft eine junge Frau mit bunter Bluse und Sonnenbrille auf der Nase ihren Freund in die Seite und flüstert: "Hey, jetzt kommt's!" Vorne am Rednerpult hebt Ivo Gönner die Hand zum Schwur. "So will ich auch in diesem Jahr den Schwur auf den Schwörbrief erneuern: Reichen und Armen ein gemeiner Mann zu sein in den gleichen, gemeinsamen und redlichen Dingen, ohne allen Vorbehalt."

So sieht es wohl aus, wenn Menschen ihrer Tradition nicht ausweichen. Aber fragen kann man das junge Paar nach dem Schwur nichts mehr. Schnell verschwinden die beiden in der Menge, die in Richtung Donau strömt, dorthin, wo gleich das Volksfest beginnt.

Umdrehen, damit kennt Maria Gangloff sich aus.

Bei gutem Wetter kann Maria Gangloff sich eigentlich gar nicht verfahren: An den Dampfwolken, die über Böhlen in den Mittagshimmel steigen, sieht man schon aus weiter Ferne, wo die kleine Stadt liegt. Aber Frau Gangloff ist flott unterwegs und schon verpasst sie, auf dem Rückweg von einer Zweckverbandsversammlung, das neue Autobahnkreuz. An diesem Tag kommt noch einiges zu auf die Bürgermeisterin der 7000-Einwohner-Stadt. Abends tagt der Stadtrat, vorher muss sie das Konzept fürs neue Kulturhaus abstimmen. Kein Wunder, dass sie sich verfranzt. Aber an der nächsten Ausfahrt kann sie ja umdrehen.

Umdrehen, damit kennt Maria Gangloff, 56, sich aus. Sie musste sich schon häufiger neu erfinden, es berührt die Heimat in ihr. Gangloff stammt aus Eythra, einem Dorf, das Mitte der Achtziger weggebaggert wurde, für die Kohle, die unter dem Ort lag. "Niemals Böhlen, dachte ich damals, ein richtiges Drecksloch war das. Wir schauten immer erst nach der Windrichtung, bevor wir Wäsche raushängten." 1967 ging sie dann doch hin, der Ausbildung zur Elektrikerin wegen. Die Braunkohle machte die Wäsche schmutzig, einerseits. Andererseits fanden dort bis zur Wende allein durch das Kombinat Otto Grotewohl Böhlen, wo der Rohstoff zu Brennstoffen verarbeitet wurde, 14 000 Menschen Arbeit.

Der Dampf, den sie heute von der Autobahn aus am Horizont sehen kann, stammt aus den Kühltürmen des neuen Braunkohlekraftwerkes. Grau und monströs ragt es aus der Leipziger Tieflandsbucht auf. Für Maria Gangloff ist es "meine Wolkenmaschine". Hat sie Böhlen vielleicht gerade so lieb gewonnen, weil es ihr altes Dorf nicht mehr gibt? "Hm. Das wird wohl so sein."

Der Kontakt zwischen Bürgern und Staat geschieht in den Kommunen

Wenn Bürger mit dem Staat in Kontakt kommen, dann geschieht das in der Regel in den Kommunen. Die Ämter vor Ort machen fast alles, von der Geburts- bis zur Sterbeurkunde. Gemeinden haben Pflichtaufgaben, zum Beispiel die Organisation der Müllabfuhr. Andere Aufgaben ­ Schwimmbadbetrieb, Bibliotheken ­ sind freiwillig. All das kostet viel Geld. Und den Gemeinden wird immer mehr aufgebürdet. Jüngstes Beispiel: die Pläne der Großen Koalition, die Betreuung der unter Dreijährigen zu verbessern.

Maria Gangloff war schon einmal Bürgermeisterin in Böhlen, 1986 bis 1990. Damals, zu DDR-Zeiten, entschieden nicht die Bürger über den Bürgermeister, sondern die Stadtverordneten. Maria Gangloff war SED-Mitglied, aus Überzeugung. "Eine kritische Distanz zur DDR hatte ich nicht." Als ihr das System abhanden kam, geriet für kurze Zeit vieles ins Wanken, bis zu dieser Reise nach Frankreich im November 1989, in die Partnerstadt Vaulx-en-Velin. "Was soll ich machen?", fragte Gangloff ihren französischen Bürgermeisterkollegen Maurice Charrier, der damals Kommunist war und heute parteilos ist. "Raus aus der Partei?" ­ "Bleib dabei", antwortete Charrier, "und geh unter die Leute".

"Ich fühle mich nicht so sehr als Politikerin"

Dieser Rat bestimmt ihr Leben bis heute. Gangloff blieb in der Partei, die mittlerweile Die Linke heißt. Maria Gangloff ist eine kräftige Frau, an ihren Ohren baumeln Ohrringe, an den Armen Armreifen, es klimpert, wenn sie gestikuliert. Ihre Stimme mit dem gemütlichen sächsischen Akzent klingt sanft ­ wenn sie es möchte. Die geschwungenen Augenbrauen umrahmen ihren Blick so, dass er auch in die Pflicht nehmen kann. Über sich selbst sagt sie: "Ich fühle mich nicht so sehr als Politikerin, eher als Arbeiterin, deren Aufgabe es ist, die Leute mitzunehmen."

Abends im Stadtrat versteht man, was sie damit meint. Dort liest Herr Ermel, er leitet den Polizeiposten Böhlen, die Kriminalitätsstatistik vor. Sein Lieblingssatz ist "Ich sag mal so". 2005 gab es in Böhlen 40 Rauschgiftdelikte, 61 Fahrräder wurden geklaut, "ich sag mal so, das ist eine bemerkenswerte Größenordnung". Insgesamt hat Herr Ermel 670 Einsätze im Jahr, aber zu wenig Leute, um alles aufzuklären. Trotzdem werden 67 Prozent der Fälle gelöst. Maria Gangloff könnte sich über die fehlenden 33 Prozent ärgern, aber sie lächelt, legt kurz den Arm um die Schultern von Herrn Ermel und dankt ihm für seinen Einsatz. Herr Ermel guckt schüchtern ins Leere, aber die Hände auf dem Tisch werden kurz zu Fäusten. Wird schon alles nicht so schlimm werden. Die Bürgermeisterin als Mutmacherin.

2001 wurde Gangloff zum zweiten Mal gewählt, diesmal direkt von den Bürgern, mit mehr als 56 Prozent bei drei Mitbewerbern. Sie ist die einzige hauptamtliche Bürgermeisterin, die Die Linke in Sachsen stellt. Umkehren, sich neu erfinden ­ was für Gangloffs Leben gilt, trifft hier für viele zu. "Böhlen ist etwas Geschaffenes", erzählt Gangloff, "erst waren die Menschen hier Bauern, dann Bergbauer, dann Industriearbeiter und Chemiker, und nun müssen sie einen auf Tourismus machen." Sie spielt damit auf das "Neuseenland" an, ehemalige Tagebaulöcher, die heute mit Wasser gefüllt werden. Die Arbeitslosenquote liegt bei 18 Prozent. Im neuen Kraftwerk, der Wolkenmaschine, die der Energiekonzern Vattenfall betreibt, arbeiten nicht mal 300 Menschen, im alten waren es 2000. Dow Chemical, ebenfalls in Böhlen angesiedelt, kommt auch mit wenigen Mitarbeitern aus.

Große Namen, aber wenig Einnahmen für die Kommune. "Die verrechnen ihre Gewinne mit Verlusten aus anderen Standorten ihrer Unternehmen, sodass wir kaum Gewerbesteuern erhalten haben." Deshalb verpasst Maria Gangloff keine Gelegenheit, die Konzernvertreter zu treffen. Mit Erfolg. Vattenfall hat die Erneuerung des Sportparks mit 70000 Euro unterstützt, Dow Chemical hat ein Computerkabinett in der Schule eingerichtet, für 66500 Euro.

Schulen sind Maria Gangloff wichtig. "Ein Ort ohne junge Menschen ist so gut wie tot. Das hier soll keine Rentnerstadt werden." Es sieht so aus, als könnte ihr das gelingen. Die Stadt hat alle ihre Baugrundstücke verkauft, und in Böhlen leben heute fast genauso viele Menschen wie vor der Wende.

Bürgermeister ist kein leichtes Amt

Bürgermeister ist kein leichtes Amt. Manchmal müssen Ortsverbände der Parteien nach externen Bewerbern suchen, weil sich vor Ort kein Kandidat findet. Ein Hinweis auf einen generellen Bewerbermangel ist das nicht. Kandidaten von außerhalb haben manchmal sogar größere Chancen, meint Professor Paul Witt von der Fachhochschule Kehl, die gemeinsam mit der Fachhochschule Ludwigsburg Kurse für Bürgermeisterkandidaten anbietet. Viele Bürger wünschten sich eher einen neutralen Experten, der nicht in die Seilschaften einer Gemeinde verstrickt ist.

Christian Engelhardt legt seinen Finger an den Abzug, eine seiner letzten Amtshandlungen an diesem Tag. Er drückt ab. Ein Knall peitscht über die Bahn. Engelhardt, 34 Jahre alt, löst die Augen von Kimme und Korn und grinst wie ein kleiner Junge. "Darf ich noch mal?", fragt er. "Klar, machen Sie ruhig fünf Schuss!", antwortet der Vorsitzende des Sportschützenvereins. Nachladen muss er nicht, er darf mit dem halbautomatischen Gewehr schießen. Christian Engelhardt, CDU, Bürgermeister des 19200-Einwohner-Städtchens Frankenberg in Nordhessen, trifft einmal ins Schwarze. Ein schönes Erlebnis kurz vor Feierabend um 21 Uhr.

Keine Zeitung wird darüber berichten

Fünf Minuten später kommt doch noch ein kurzer Ärger auf. Die Presse war nicht informiert, und niemand hat einen Fotoapparat dabei. Keine Zeitung wird darüber berichten, dass der Bürgermeister einen Scheck in Höhe von 288 Euro für die Jugendarbeit gebracht hat. Dabei sind die Schützenvereine so wichtig, über 20 gibt es in der Region. Aber Engelhardt hat sich schnell wieder gefasst. Statt der Gewehrschüsse hallt jetzt seine Stimme durch das Vereinsheim. Der Bürgermeister sagt, dass Vereine das Leben der Stadt bereichern. Dass sie Jugendlichen Aufgaben bieten. Und dass gerade der Sportschützenverein etwas Besonderes ist, weil die Mitglieder ihr Schützenhaus selbst gebaut haben.

In Deutschland gibt es mehr als 12000 Städte und Gemeinden. In Fernsehserien kommen meistens nur Großstadtmenschen vor. Die Wirklichkeit sieht anders aus. Etwa 60 Prozent der Menschen in Deutschland leben in Orten, die weniger als 50 000 Einwohner haben.

Für kurze Reden wie die im Schützenhaus braucht Engelhardt keinen Zettel. Diese Dinge hat er schon häufiger gesagt, seit er vor drei Jahren sein Amt antrat. Er hat schnell gelernt. Unter seinem Vorgänger hatte die Stadt die Jugendförderung einfach auf die Bankkonten der Vereine überwiesen. Jetzt bringt der Bürgermeister die Schecks. Viel Arbeit, bei 130 Vereinen. Aber wer die Schützen beobachtet, ahnt, dass sich das auszahlen wird. Erst stehen sie ein bisschen verloren in ihrem Heim herum, dann bildet sich ein kleiner Pulk, am Ende beklatschen die Schützen ihren Bürgermeister. Gestern Abend, werden sie morgen vielleicht ihren Kollegen erzählen, war der Bürgermeister da und hat einen Scheck gebracht. So was spricht sich herum.

Der Mann, der am Mittag in Engelhardts Büro am Besprechungstisch saß, hat dunkle Augenränder, sonnengegerbte Haut, hochgegelte Haare und eine tiefe, raue Stimme, die schon bei normaler Tonlage laut ist. Für die Straße, die an seinem Haus vorbeiführt, soll er 6500 Euro Erschließungsgebühren bezahlen, obwohl sie noch gar nicht fertig ist. "Ich hab zwei kleine Kinder, woher soll ich 6500 Euro nehmen und nicht stehlen?" Christian Engelhardt schließt für eine kleine Ewigkeit die Augen. Das macht er oft, als könnte er Problemen kurz entkommen. Seine Augen sind noch geschlossen, als er in die Wirklichkeit zurückfindet.

"Wir können es uns nicht mehr leisten, die Anwohner erst dann an den Kosten zu beteiligen, wenn das ganze Baugebiet erschlossen ist", sagt der Bürgermeister und öffnet die Augen.

"Verstehe ich."

"Aber Sie können den Betrag in Raten zahlen, wir wollen das unbürokratisch handhaben mit der Stundung, 0,5 Prozent Zinsen pro Monat, zwei Jahre Laufzeit."

"Ich will das vorher vom Arsch haben, dann kündige ich lieber eine Versicherung."

"Das würde ich nicht machen, eine Verwandte von mir hat's gemacht und viel Geld verloren."

Der Bürgermeister will zwar unser Geld, aber er hört auch zu.

Jetzt flüstert der Bürgermeister fast, rückt ein wenig näher an den Mann heran und rechnet vor. Als sein Gast nach einer halben Stunde geht, hat er die Ratenzahlung akzeptiert. In der Nachbarschaft wird er wohl erzählen: Der Bürgermeister will zwar unser Geld, aber er hört auch zu.

Zwar unterscheiden sich die Kommunalordnungen der Bundesländer, aber die Tendenz ist klar: Die Stellung des Bürgermeisters ist sehr viel stärker geworden. Nach der süddeutschen Ratsverfassung ist er Vorsitzender des Gemeinderates, Chef der Verwaltung. Er repräsentiert seine Gemeinde und darf Verträge für sie abschließen. "Bürgermeister müssen Vollblutmanager mit menschlichen Zügen sein", sagt Professor Paul Witt von der Fachhochschule Kehl. "Mit dem Unterschied, dass Manager 'nur' an ihre Kunden denken müssen ­ Bürgermeister aber an hundert Prozent ihrer Bevölkerung."

Christian Engelhardt, gebürtiger Schwabe, arbeitete als Rechtsanwalt in Marburg, als sich die Bürgermeisterkandidaten der CDU im nahen Frankenberg gegenseitig verhinderten. Er mietete sich ein Zimmer im Wohnheim des Krankenhauses, führte Wahlkampf und siegte. "Wo können Sie in meinem Alter schon Chef von 200 Leuten sein?", fragt Engelhardt. Aber er ist auch so etwas wie der Chef von 19 200 Bürgern, und die sind umgekehrt sein Chef. Er ist auf ihre Stimmen angewiesen. Sie haben ihn gewählt, und sie beobachten nicht nur seine politischen Erfolge. Unter Engelhardt wurde Frankenberg "Familienstadt mit Zukunft", das hessische Sozialministerium unterstützt familienfreundliche Projekte zehn Jahre lang mit einer halben Million Euro jährlich.

Aber es geht immer auch um ihn. Riesengroß berichtet die "Frankenberger Zeitung" darüber, dass Engelhardts Frau einen Job in Wiesbaden annimmt und nur noch am Wochenende zu ihm kommt. Freunde fragen ihn, ob seine Ehe kaputt sei. "Nur Tage später will ein Bekannter wissen, warum ich meine Frau so offen in der Fußgängerzone küsse." Geredet wird immer. Bürgermeister, sagt Christian Engelhardt, haben eine brutal exponierte Stellung. Aber er kann damit leben, die Menschen sind so. "Und Menschen machen mir Freude."

 

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