25.02.2014

Bewertung

Liturgie
2
Predigt
4
Musik
4
Atmosphäre
4

Nicht allzu oft sollte man am Sonntag eine halbe Stunde vor Beginn des Gottesdienstes da sein, um noch einen Platz zu bekommen. Wohl aber vier Mal im Jahr in der Reutlinger Katharinenkirche, wenn ­zu „Literaturgottesdiensten“ eingeladen wird. Pfarrerin Annette Denneler hat den dritten von vier Terminen übernommen. Die Vorbereitung ist eine Heidenarbeit. Ein dickes Buch muss gelesen, die zitier­ten Stellen ausgewählt und dann mit Schauspielern eingeübt werden. Der Lohn für die Mehrarbeit: eine zum Bersten gefüllte Kirche.

„Haben Sie das Buch auch schon gelesen?“, fragt eine Frau den Kirchgänger. Immerhin ist es ein Bestseller: „Die Analphabetin, die rechnen konnte“ von Jonas Jonasson. Ich verneine und bin schon deshalb gespannt, weil der zweite Roman des schwedischen Schriftstellers in den meisten Feuilletons ziemlich zerrissen wurde. Ein schwarzes Waisenmädchen aus Südafrika gerät zu Zeiten der Apartheid zufällig in den Besitz einer Atombombe, die versehentlich nach Schweden geschickt und dort dem chinesischen Ministerpräsidenten ins Fluggepäck geschmuggelt wird. Am Ende ist alles gut, und aus dem Waisenmädchen ist eine Botschafterin geworden. Alles etwas weit weg von dem, was die Bibel zur Erklärung der Welt bereithält.

Letzter Gruß an Nelson Mandela?

Schauspieler des örtlichen Stadttheaters lesen im Wechsel aus dem Roman, dazwischen interpretiert Pfarrerin Denneler. Ein schwarzes Mädchen als Heldin ­ist immer beziehungsreich – und hat nicht Mandela himself an seine Kerkerwand den Spruch geschrieben: „I am the captain of my soul“ (Ich bin der Captain ­meiner Seele)? Sie ist keine Heilige, aber eine Heldin des Alltags. Sie lässt sich nicht unterkriegen, beklagt nicht ihr Schicksal, sondern geht erhobenen Hauptes durchs Leben: „Jeder von uns kann der Held oder die Heldin der eigenen Lebensgeschichte werden und der Captain seiner Seele“, Denneler hat den über weite Strecken eher klamaukhaften Roman auf einen Kern reduziert. Plötzlich wirkt das Buch doch noch sinnstiftend.

Fast zwei Stunden dauert der Gottesdienst. Es sieht so aus, als sei niemand eingeschlafen. Vielmehr schmettert die ganze Gemeinde ein „We Shall Overcome“ in den neugotischen Kirchen­himmel, als gelte es, Nelson Mandela einen letzten Gruß zu schicken.

Sogar Beifall hat die Gemeinde geklatscht, lange und laut. In der kommenden Woche wird Pfarrerin Denneler ­wieder in ihrer Heimatgemeinde, einer Neubausiedlung am Stadtrand predigen, vor sehr viel weniger Gläubigen.

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Telefon: 07121/33 44 37
Fax: 07121/33 93 27

pfarramt@katharinenkirche-reutlingen.de

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