Marco Wagner
Bitte schlicht und keine Schnörkel
Licht und Luft für die Arbeiter, ein Festspielhaus für die künstlerische Avantgarde: Karl Schmidt erschuf die Gartenstadt Hellerau
Tim Wegner
Privat
24.02.2014

Im Norden Dresdens ist ein junger Mann auf dem Rad unterwegs. Ihn treiben im Sommer 1906 große Pläne um. Karl Schmidt, bereits mit 33 Jahren Besitzer ­einer florierenden Möbelfabrik, sucht Land für neue Fabrikhallen und eine ganze Arbeitersiedlung. Das  Heidegebiet Heller erscheint ihm ideal: niedrige Bodenpreise, gute Luft. Schließlich, so schreibt er später, ist ein Arbeiter keine „regelmäßig durch Lohnzahlungen in Gang zu setzende Maschine, sondern ein Mensch mit wachem Empfinden“.

Deutschlands erste Gartenstadt Hellerau: 350 Wohnungen und Reihenhäuser, Schulen, Gasthäuser, die Fabrik, ein Festspielhaus. Karl Schmidt ist Anhänger der Lebensreformbewegung. Hier steht der Mensch und nicht die Maschine im Mittelpunkt – ganz anders, als es der Jungunter­nehmer einige Jahre zuvor auf Reisen nach England, ins Mutterland der Industriali­sierung, kennengelernt hatte.

Klarglas für die Arbeiter, "Rat und Tat" für den Alltag

In Hellerau soll alles hell, licht und menschenfreundlich werden. Die Fabrikfenster lässt er mit Klarglas ausstatten, ein Novum für ganz Deutschland. Wohnungen und Häuser im Dorf werden genossenschaftlich verwaltet, der Ortsverein „Rat und Tat“ organisiert Wohltätigkeitsveranstaltungen, Kinderpartys, Faschingssausen. Dazu gibt es viel Kultur, viel Politik. Designer und Intellektuelle gehen in Hellerau ein und aus und diskutieren neue Lebensentwürfe: Thomas Mann, Henry van de Velde, Fritz Schumacher, Friedrich Naumann. 

Geboren wurde Karl Schmidt 1873 im sächsischen Zschopau. Der Vater ist Weber, von elf Geschwistern überleben nur drei. Karl streift durch die Wälder und beginnt mit vierzehn Jahren eine Tischlerlehre. Seine Lehr- und Wanderjahre führen ihn nach Schleswig-Holstein, Dänemark und eben auch nach England. Erfahrungen und Eindrücke dieser Reisen prägen ihn. 

In Dresden baut er mit der Firma K. Schmidt eine kleine „Bau-Möbelfabrik, Fabrik kunstgewerblicher Gegenstände“ auf und benennt sie wenig später in „Dresdner Werkstätten für Handwerkskunst“ um. 1907 fusioniert Schmidt mit einer Firma aus München zur „Deutsche Werkstätten für Handwerkskunst GmbH“. Als „Deutsche Werkstätten“ existiert diese Firma heute mit Sitz in Dresden-Hellerau. Auch den Deutschen Werkbund, den ­Schmidt mitbegründet hat, gibt es noch. Da widmen sich Gestalter und Unternehmer gemeinsam  „der Veredelung der gewerblichen Arbeit im Zusammenwirken von Kunst, Industrie und Handwerk“

Man nennt ihn den Holzgoethe aus Dresden

Handwerk ohne Kunst – für Schmidt undenkbar. In einem offenen Brief fordert er alle Dresdner Künstler auf, ihm „billige, einfache, aber künstlerisch“ gestaltete Ge­brauchsgegenstände zu entwerfen. Die damals vorherrschenden Schnörkelmöbel sind ihm ein Graus: „Bei mir wird kein ­his­torisches Möbel gemacht!“ Die Künstler erhalten Prozente und werden als Urheber genannt, eine kleine Revolution. Die Möbel der Werkstätten werden auf Ausstellungen prämiert und verkaufen sich glänzend.

Karl Schmidt ist mehrmals verheiratet – über sein Privatleben ist sonst wenig bekannt. Es gibt Kinder. Zeitgenossen schildern ihn als bescheiden, aber auch ungeschickt im Umgang mit Geld. Und als nicht immer diplomatisch. Als in Hellerau ein modernes Festspielhaus erbaut wird, zerstreitet er sich mit seinem Partner Wolf Dohrn über die Baukosten. 

Nach dem Ersten Weltkrieg und der Wirtschaftskrise stellt Schmidt die Produktion um. Er plant erfolgreich Fertigbau­häuser, doch trotzdem kommt das Unternehmen in große wirschaftliche Tur­bulenzen. Unter den Nazis hält der Unternehmer still, lässt andere machen, und die bauen Flugzeugteile und Spinde für Soldaten. Nach dem Krieg folgen ­Reparationszahlungen und Enteignung. Das Festspielhaus wird zur Kaserne, erst für die Nazis, dann für die Russen. Karl Schmidt stirbt im Jahr 1948.

Wer heute nach Hellerau kommt, erlebt, was sich Schmidt wohl gewünscht hätte: Im restaurierten Festspielhaus tanzt die Forsythe-Company, die Häuser der Gartenstadt werden renoviert, die Deutschen Werkstätten bauen Luxusmöbel. Ein ­Förderverein hat sich gegründet: Die Gartenstadt Hellerau soll aufgenommen werden in das UNESCO-Weltkultur­erbe. Als „Laboratorium einer neuen Menschheit“ hatte der Dichter Paul Claudel Hellerau einst beschrieben. Ein großes Erbe.

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