Peggy Clausnitzer hatte Glück. Sie hat sozusagen den Jackpot gewonnen, denn die 44-Jährige darf neuerdings mit ihrem Sohn in Wallmow leben. Direkt gegenüber dem Hotspot des Ortes – dem Dorfladen. Der heißt offiziell eigentlich „Dorfquelle“, alle 300 Anwohner einschließlich der Besitzerin nennen ihn aber nur „Konsum“. Dort verbringt die Neubürgerin gerade ihre Renovierungspause und genießt in ihren farbbesprenkelten Latzhosen das freitägliche Dorfgetümmel. Ab 15 Uhr ist hier Treff. Das weiß Peggy aus Chemnitz längst: „Ich wär ja nie irgendwo aufs Land gezogen. Aber hier hab ich richtig Lust drauf!“
Damit ist sie nicht allein. Die Legende vom wundersamen Wallmow hat schon viele freigeistige Familiengründer erreicht. Die Wohnung, die Peggy Clausnitzer gerade renoviert, war die letzte freie im ganzen Ort. Wallmow ist voll. Nicht mal mehr Bauland gibt es, die Ortsvorsteherin muss interessierte Leute mit Landhaustraum aufs Umland schicken. „Bestimmt gibt es in Brüssow noch was. Oder vielleicht in Carmzow.“
Um Wallmow herum sind die Chancen astronomisch gut, leere Häuser zu finden. Die Uckermark am Rande von Brandenburg ist nach UN-Maßstäben so entvölkert wie das australische Outback. „Ich fühl mich heut so leer, ich fühl mich Brandenburg“, singt Comedian Rainald Grebe, der auch gern darüber witzelt, dass es im Bundesland wieder Wölfe gibt.
Wo Leere ist, ist auch Platz
Tatsächlich verteilen sich gerade einmal 122 000 Uckermärker auf einen der flächenmäßig größten Landkreise der Republik. Statistisch gesehen suchen jeden Tag fünf das Weite. In den Gemeinden leben oft nur noch zwanzig Menschen pro Quadratkilometer, weniger als ein Zehntel des Bundesdurchschnitts und halb so viele, wie Volkswirtschaftler mindestens für nötig erachten, um überhaupt eine öffentliche Infrastruktur aufrechtzuerhalten. Schulen werden geschlossen, der Nahverkehr abgebaut. Nun müssen die Politiker resigniert sogar das letzte Krankenhaus abwickeln. Bei den Arbeitslosenzahlen belegt der Landkreis Uckermark – in dem die Bundeskanzlerin Angela Merkel aufwuchs – Spitzenplätze, derzeit gut 14 Prozent.
Doch wo Leere ist, das ist auch Platz. In der Uckermark ist das Haus mit Grundstück für Großfamilien aus Berlin dazu noch erschwinglich. Wer die Renovierung nicht scheut, bekommt schon ab 12 000 Euro ein Häuschen, und für ein bisschen mehr sogar Platz für das zweite, dritte und vierte Kind, für eine Schar Biohühner und für einen Gemüsegarten.
Schon kurz nach der Wende begann Wallmow, sich herauszuputzen. In der namenlosen, weil einzigen Dorfstraße, reiht sich ein liebevoll hergerichteter Bauernhaustraum an den nächsten, Spielplatz reiht sich an Garten reiht sich an Hühnerstall, alles weinumrankt. „Wir essen unsere Trauben auch gerne selber“, steht da dran, „Danke“. Nachbars Trauben naschen – selbst die Verbrechen in Wallmow wirken irgendwie idyllisch. Jeder vierte Wallmower ist Kind oder jugendlich, Kinderlachen ist hier so alltägliche Begleitmusik wie das Zwitschern der Vögel.
Fragt man die Wallmower, wie alles begann, wird es schnell unübersichtlich. Die Henkys‘ gehörten zu den ersten, die nach der Wende kamen und in das alte Pfarrhaus zogen. Sie kümmerten sich um die Kirche und übernahmen das Bürgermeisteramt, dazu noch eine Tischlerei und die Leitung der ersten ABM-Maßnahme: „Dorfverschönerung hieß die“, erinnert sich Frau Henkys an die Zeit, als das große Aufräumen begann. Gräben wurden ausgehoben, ein Dorfteich angelegt, Straßen ausgebessert und vor allem viele Bäume angepflanzt. Jeder Dorfbewohner erinnert sich, damals mit angepackt zu haben, die Aufbruchsstimmung nach der Wende war sicher eine entscheidende Bedingung.
Auch eine Villa Kunterbunt gibt es
Eine Anzeige ökologisch interessierter Studenten in der „taz“ hat wohl auch eine Rolle gespielt. Und dann gehört zu Wallmow auch noch die Wendt’sche Familiensaga. Sie erzählt von den einstigen Gutsherren Wendt, von der Enteignung der Familie in der DDR und der Rückkehr des Erben nach der Wende. Inzwischen ist der Ökobauer Peter Wendt einer der größten Arbeitgeber in Wallmow.
Aber was genau der Grund oder Auslöser dafür war, dass hier all das funktioniert hat, was man drum herum vergeblich versucht? Eine richtige Erklärung lässt sich in keiner Version der Geschichte Wallmows ausmachen.
Die Gründung der freien Schule durch den Verein Zuckermark muss dann Ende der Neunziger zumindest noch mal einen entscheidenden Attraktivitätsschub gegeben haben, der viele junge Familien anzog. Die Dorfschule ist eine Art Villa Kunterbunt, Kamille, Ringelblume, Löwenzahn teilen sich den Platz vor dem Eingangstor mit Brennnesseln statt englischem Rasen.
Drinnen spielen und lernen Kinder von drei bis zwölf miteinander, in der Kita-Gruppe hat die Morgenrunde begonnen. Heute hat Leon eine schwarzgrünlich schimmernde Schwanzfeder dabei, die hat er seinem Hahn ausgerupft und reicht sie nun stolz in der Runde herum. Überhaupt scheinen Hühner hier total hip zu sein, jeder hat welche zu Hause, und die meiste Bewunderung erntet, wer bei Umfragen führt wie: „Wie viele Eier haben eure Hühner heute Morgen gelegt?“.
Die ganze Kita ist eine „spielzeugfreie Zone“ – so steht es groß an einer Wand. Spielen sollen die Kinder lieber mit dem, was sie basteln oder draußen finden. Gegenüber ist ein Spielplatz, am Dorfsee gibt es eine Badestelle, außerdem einen Kräutergarten – und natürlich gehen die Kinder sofort nach der Morgenrunde mit ihren Betreuern nach draußen. Eine interessierte Mutter lässt sich durch den Neubau führen. Der Andrang war so groß, dass der Trägerverein die Kapazitäten der Kita jetzt auf mindestens 30 Plätze aufstockt, natürlich wird ökologisch nachhaltig gebaut.
Als die Kita aus ist, kommen die Eltern angerollt, ihren Nachwuchs abzuholen, die einen mit dem Jeep, die anderen mit dem Fahrrad. Drei der Schulmädchen auf zu großen Fahrrädern antworten im Chor auf die Frage, wie ihnen Wallmow denn gefällt, mit „voll super, toll“, „unsere Schule ist nicht so streng“, „wir haben keine Hausaufgaben“ und „es gibt gaaanz viele Kinder“. Nur die Jungs würden nerven, schiebt die Größte mit dem aufgeschrammten Knie hinterher.
Und die Jugendlichen – vermissen sie keine Discos? Das könnte man ja mal die Clique fragen, die auf der Straße herumlungert. Sie grüßen freundlich. Dann springen sie aufeinander und umeinander herum. Sie proben ein akrobatisch-dramatisches Kunststück, mit Feuerjonglieren und menschlichen Pyramiden, fürs Ernte-dankfest. Offenbar hat hier auch die Jugend gut zu tun.
Dabei gehört selbst Wallmow zu den Gemeinden, in denen es nach Meinung der Volkswirtschaftler nicht genügend Menschen gibt. Statt zu klagen, haben die Anwohner ihre eigenen Struktur aufgebaut. Die Kirchengemeinde ist eigenständig geblieben, Reinhard Henkys macht das Gemeindesekretariat und nimmt Anmeldungen für Taufen und Beerdigungen entgegen. Alle drei Wochen kommt die Pastorin und hält Gottesdienst. Der ist so gut oder so schlecht besucht wie überall auf dem Land. Die Wallmower kümmern sich um ihre Kirche – aber doch mehr um die Turmuhr als um das geistliche Leben.
Wüste sieh anders aus anders.
Ihre Freizeit gestalten die Dorfbewohner gemeinsam, man kann jeden Tag etwas anderem unternehmen: Frauensauna, Posaunenchor, Männersauna, Tai Chi, Kindersauna, Theatergruppe. Oder man trifft sich bei der freiwilligen Feuerwehr, im Karnevalsverein, im Chor, beim Sport- und Kulturverein, in der Frauentrommelgruppe und so weiter. Wüste ist anders.
Statt sich von der Arbeitslosenquote frustrieren zu lassen, gründeten über ein Dutzend Kleinunternehmer ihre Betriebe: Gärtner, Künstler, Handwerker. Weil sich der Nahverkehr finanziell offenbar nicht lohnt, haben die Wallmower einen Rufbus in die Gemeinde geholt – für die immerhin 18 Kilometer zum nächsten Bahnhof. Auch wer kein Auto hat, sitzt am Wochenende in Wallmow nicht fest. Und weil die staatliche Schule nicht zu den Vorstellungen der Eltern passte, hat man eben die freie Schule aufgebaut.
Klar, dass es auch eine Initiative war, die den Dorfladen rettete. Die Ladenbesitzerin Ramona Fester erzählt voller Dankbarkeit: Vier Wallmowerinnen hätten erkundet, warum kaum jemand im Dorfladen einkauft. Und was er denn anbieten müsse, damit sich das ändert und die Leute nicht mehr nach Prenzlau in den Supermarkt fahren. Seitdem hat der Konsum eine Bioecke, in der die Milch immer ausverkauft ist. Er bietet „Club-Mate“ für die Exilberliner, freitags einen Dorftreff bei Kaffee und Backwerk, und im Sommer wird gegrillt.+
Außerdem legt Frau Zahn von der Biogärtnerei Löwenzahn das „Freitagsgemüse“ vorm Konsum aus, ihre Ernte. „Hier wissen die Menschen die Arbeit zu schätzen, statt immer nur am Preis rumzumäkeln“, sagt sie. Schlecht laufe ihr Geschäft trotzdem: „Zu viele Leute haben ihr eigenes Gemüse im Garten.“
Zum Dorffest schaut dann der Rapper und Sänger Max Herre mitsamt Familie vorbei. Er wollte auch mal raus aus Berlin. Der Dorffest-Moderator aber spielt Volksmusik. Ein angetrunkener Cowboy bemächtigt sich des Mikros und stimmt „Drei weiße Tauben“ an, einen Mallorca-Partykracher. „Schön gemacht“, lobt ihn später sein Sitznachbar, obwohl er eher aussieht, als wäre er peinlich berührt.
Wallmow hat es schon zu einiger Berühmtheit gebracht. Zweimal errang es den Titel „Dorf mit Zukunft“. Sogar Touristen verirren sich in den Dorfkrug. Einsam sind die Leute hier nicht. Man schließt die Haustür nicht ab, weil man den Nachbarn vertraut. Eine heile Welt.
Auf dem Rückweg läuft die Reporterin an einer Weide mit einer Herde Schafe vorbei. Sie grasen unter den Apfelbäumen mit den reifen Früchten. Und dann passiert doch noch etwas Schlimmes. Wie aus dem Nichts fällt einem liegenden Lamm ein Apfel auf den Kopf. Mittendrauf! Es mäht empört.