chrismon: Frau Bruhns, Ihr Vater wurde als Mitverschwörer des 20.-Juli-Attentats auf Hitler hingerichtet. Herr Boom, Ihr Vater wurde als der Kanzleramtsspion Günter Guillaume enttarnt. Im Grunde sind Ihre Väter Fremde für Sie gewesen. Was können Kinder wirklich über ihre Eltern wissen?
Wibke Bruhns: Solange die Eltern leben, wissen sie gar nichts darüber, wie es den Eltern wirklich geht und was in deren Köpfen vorgeht. Kinder nehmen Eltern nur als Ressource wahr.
Pierre Boom: Ich hatte geglaubt, meine Eltern zu kennen. Wie sie sich mir gegenüber gegeben hatten, das war mir authentisch erschienen. Es war unfassbar für mich, als meine Eltern plötzlich verhaftet wurden und man mir mitteilte, dass sie Spione seien. Da war ich 17.
Sie haben Bücher über Ihre Väter geschrieben. War das auch eine Art Trauerarbeit, weil Sie Ihre Väter nicht wirklich gekannt haben?
Boom: Nicht nur. Denn die Suche nach den fremden Eltern ist auch prototypisch: Wie kann es überhaupt gehen zwischen Eltern und Kindern? Wir alle kennen Söhne und Töchter, deren Väter sich verweigern, weil sie verdrängen – dazu muss man nicht die Nazizeit heranziehen.
Bruhns: Ich bin vaterlos aufgewachsen wie fast alle in meiner Generation. Aber ich hab einen Vater nie vermisst, um mich herum waren so viele Frauen. Nein, mein Buch ist in einem anderen Sinn prototypisch. Diese Geschichte veranlasst viele Menschen dazu, über ihre eigenen Wurzeln nachzudenken und Stereotypen zu entdecken – wir sind ja alle ein Produkt der Geschichte, selbst wenn wir nicht in der Nazizeit gelebt haben.
In Ihrem Buch, Frau Bruhns, ärgern Sie sich sehr über Ihren Vater. Wären Sie gnädiger, wenn es nicht Ihr Vater gewesen wäre, der sich zunächst dem Nazi-Regime anpasste und der seine Frau betrog?
Bruhns: Nein. Ich hätte genauso gewütet, wenn es sich um jemand anders gehandelt hätte. Ich habe aber eben einen Mann und eine Familie erwischt, über die ich unendlich viel Material habe. Und ich finde einfach, man kann nicht ein 17-jähriges Au-pair-Mädchen in sein Bett ziehen. Ob das nun mein Vater ist oder jemand anders.
Glauben Sie, Ihren Vätern hätte gefallen, was Sie über sie schreiben?
Boom: Mein Vater hätte sicher mit mir darüber gestritten. Aber es ist ja leider bis zu seinem Tod nie dazu gekommen, dass wir überhaupt über seinen Weg hätten reden und streiten können. Meine Mutter hat meine Geschichte zwar noch gelesen, ist dann aber gestorben, bevor wir miteinander darüber reden konnten. Ihr hat sicher auch manches nicht gefallen.
Bruhns: Mein Vater hätte natürlich mehr Diskretion von mir erwartet. Wobei ich finde, wenn einer so ein Leben lebt, dann muss man das auch so beschreiben dürfen. Ich bin natürlich auch meiner Mutter gegenüber grenzüberschreitend. Sie würde mich steinigen. Weil sie die Rolle, die ich da beschreibe, immer sorgfältig verborgen hat. Meine Mutter war keine Ehefrau, die man betrügt. Meine Mutter war keine, die mit Lügen leben konnte. Das war nicht ihr Selbstverständnis. Ich hätte das auch nicht veröffentlicht, wenn sie noch gelebt hätte. Aber jetzt musste ich ran. Die Geschichte ist so spannend und die Tragik so groß. Die Tragik, dass meine Eltern sich nicht mehr haben versöhnen können. Mein Vater lebte nach dem Urteil noch elf Tage, aber in ihrem Kopf war er schon tot. Als die jungen Leute in den 60er Jahren Gott sei Dank damit anfingen, bei der Elterngeneration nachzufragen, hab ich sehr schnell begriffen, dass ich an dieser Wunde nicht rühren sollte.
Boom: Über eine Sache konnte ich mit meiner Mutter auch nie reden: Warum habt ihr das gemacht? Was war die innere Motivation? Wobei ich große Zweifel habe, dass es diese sozialistische Motivation für ihre Agententätigkeit überhaupt gab. Ich glaube, in vieles sind sie reingeschlittert. Die geheimdienstliche Arbeit meines Vaters, aber auch meiner Mutter, die ja genauso voll gearbeitet hat, hat eine ganz seltsame, schicksalhafte Eigendynamik bekommen. Ich will sie damit nicht entschuldigen, ich will es nur beschreiben.
Frau Bruhns, Herr Boom, Ihre Wege haben sich ja vor vielen Jahren schon einmal gekreuzt...
Bruhns: Ja, wir trafen 1973 bei Willy Brandts berühmtem Urlaub in Norwegen zusammen. Ich als Mitarbeiterin des „Stern“ und Pierre als Sohn des Kanzler-Referenten Guillaume. Lustig.
Haben Sie sich da überhaupt wahrgenommen?
Boom: Natürlich, ich war ja kein Kleinkind mehr.
Bruhns: Als dann die Affäre Guillaume publik wurde, da hat mich sehr beschäftigt, wie’s eigentlich diesem Pierre geht. Wie steht er das durch? Günter hat mir nach seiner Freilassung noch ausrichten lassen, dass er es empörend fand, dass ich nicht mal rüberkäme, um ihn zu besuchen. Aber auch ich fühlte mich verraten. Ich war tief beleidigt. Mit dem wollte ich nichts mehr zu tun haben. Nie mehr.
Wibke Bruhns: „Eltern sind nicht dazu da, genau so zu sein, wie Kinder sie haben wollen.“
Boom: So schwer es mir als Sohn fällt, das zu sagen, aber objektiv hat mein Vater tatsächlich Menschen verraten und Vertrauen missbraucht. Er war den journalistischen und politischen Kollegen ja sehr nahe gewesen. Ich hatte dann nach dem Zusammenbruch der DDR gehofft, dass es zwischen Vater und Sohn doch noch irgendeine Art der Auseinandersetzung geben könnte. Aber das wollte er nicht, wahrscheinlich konnte er es auch nicht. Denn dann hätte er sich in ganz vielem selbst in Frage stellen müssen. Stattdessen wollte er Lebenslügen wieder ungeschehen machen.
Bruhns: Nach dem Motto: Es ist doch alles gar nicht so schlimm gewesen, nun ist die Mauer weg – stellen wir uns doch nicht so an! Sag mal, Pierre, gab es denn bei euch zu Hause überhaupt eine besondere Affinität zur DDR?
Boom: Nein, das war nie ein großes Thema. Man packte Pakete für die Verwandtschaft und schimpfte dabei wie in allen Familien auf den Osten: „Die haben ja nix, und wir müssen Kaffee und Nylonstrümpfe schicken.“
Die perfekte Illusion – auch von der heilen Familie?
Boom: Es schien mir ein intakter Familienverband zu sein, wobei ich wusste, dass mein Vater Frauengeschichten hatte. Ich hatte zwar ein weitgehend ungetrübtes, aber nicht sehr enges Verhältnis zu ihm. Ich war wohl stolz auf meinen Vater, dass er bei Willy Brandt gearbeitet hat. Willy Brandt hat mich ja sehr geprägt, ich war 1972 bei diesem „Willy-wählen“-Wahlkampf 15 Jahre alt. Aber ein Held war mein Vater nicht für mich. Schlimm war aber, dass ich meine Eltern, als ich sie in der Untersuchungshaft besuchte, nicht fragen konnte. Bei Begriffen wie Brandt, DDR, Sozialismus wurde das Gespräch sofort von den BKA-Beamten unterbrochen. Also haben wir darüber geredet, wie es Oma geht, wie es im Gefängnis ist, über die Schule. Um das Ganze überhaupt aushalten zu können, hab ich mir dann meinen Vater, meine Eltern irgendwie geformt. Es war eine Idealisierung des Vaters. Ich konnte und wollte ihn halt im Moment der Enttarnung nicht völlig ablehnen. Dieser idealisierte Vater war so eine Mischung aus dem, was ich mir gewünscht hätte, und dem, was ich an naiv sozialistischen Vorstellungen in ihn reinprojiziert habe. Ich stand ja links, war bei den Falken.
Frau Bruhns, Sie haben Ihren Vater vor allem durch Quellenstudien kennen gelernt – wie hat sich dabei das Bild Ihres Vaters verändert?
Bruhns: Es ist konkreter geworden. Vorher war er einerseits ein Held – wobei ich kein Faible für Helden habe – und andererseits ein Anekdotenmann. Ich hatte gehört, er habe einen ungeheuren Schlag bei Frauen, aber auch Männer muss er sehr für sich eingenommen haben. Bei der Recherche hatte ich plötzlich das Gefühl, ich muss dem auch mal eine hinter die Ohren geben. Es ist sehr schwierig, als über 60-Jährige über einen Vater zu schreiben, der so viel jünger starb. Ich musste mich da vorurteilsfrei reindenken in die männlich verquaste Psyche dieses jungen Menschen. Meine eigene Tochter hat mich übrigens während der Recherchen mal zur Ordnung gerufen und gesagt: Hör auf, ihm die Nase zu putzen, er ist nicht dein Sohn! Auf frühe Schriftstücke von ihm habe ich vor ein paar Jahren einen gelben Zettel geklebt: Der Junge ist entsetzlich. Pompöses Kerlchen. Jetzt, als ich das Buch schrieb, sagte ich mir: Vielleicht sollte ich einfach mal hinhören und mal ein bisschen weniger harsch sein. Mittlerweile ist mir der Mann unendlich ans Herz gewachsen.
Boom: Ja, das Nicht-verstehen-Können war auch bei mir ein Punkt. Dann aber auch das Noch-nicht-zulassen-Können.
Bruhns: Das geht mir genauso. Respekt ist der springende Punkt. Eltern sind nicht dazu da, genau so zu sein, wie Kinder sie haben wollen. Aber da wütest du natürlich eine Weile gegen an.
Boom: Man wütet, weil man eine Sehnsucht hat.
Bruhns: Deswegen bin ich froh, dass ich dieses Buch erst jetzt machen konnte. Hätte ich es in den 70er Jahren geschrieben, wäre es viel hochmütiger geworden. Jetzt empfand ich es als außerordentlich beglückend, ihn lassen zu können. Auch wenn ich in Einzelfällen noch immer sage: Sag mal, du tickst doch wohl nicht richtig!
Pierre Boom: „Man wütet, weil man eine Sehnsucht hat.“
Was haben Sie durch die Beschäftigung mit Ihren Vätern gelernt?
Boom: Ich habe daraus gelernt, wie ich mich nicht verhalten würde. Mein Vater, auch meine Mutter haben es in wichtigen Phasen an Verantwortung mangeln lassen, sie waren fahrlässig. Ich versuche, im Verhältnis zu meinen eigenen Kindern, vor allem zum älteren Sohn, den ich ja allein großgezogen habe, mehr Verantwortung zu übernehmen. Vor allem, einfach da zu sein. Meine Eltern waren ja wegen der Verhaftung – ein Ergebnis ihres Handelns – in einer für mich wichtigen Lebensphase einfach nicht mehr präsent.
Bruhns: Ich habe durch die Beschäftigung mit meinem Vater vor allem gelernt, wovor ich mich zu hüten habe: mich einem System anheim zu geben. Gut, ich bin nicht in diese Situation gekommen; und heute, als erwachsene Frau, hätte ich – im Gegensatz zu ihm – auch das intellektuelle Rüstzeug, mich dagegen zu stellen. Vielleicht auch, weil er das für mich vorgelebt hat. Und vorgestorben hat.
Welche Frage hätten Sie Ihren Vätern gern noch gestellt?
Bruhns: Schwierig. Ich hätte eher einen Wunsch für ihn: Ich hoffe, es geht dir gut.
Boom: Ja, ich hätte auch einen Wunsch gehabt: ihn doch noch mal kennen gelernt zu haben. Nach dem Zusammenbruch der DDR wäre so ein Moment gewesen. Aber er hat sich nicht geöffnet, nicht den Weg zur Selbstkritik gefunden.
Bruhns: Das ist aber auch schwierig. Mit diesem Leben, das der Günter Guillaume geführt hat, wie hätte er da nach dem Zusammenbruch der DDR auch noch „Yippie!“ sagen sollen.
Boom: Ja, es ist wohl eine zwangsläufige Entwicklung gewesen. Bei meiner Mutter hat mich das viel mehr bedrückt, vor allem nach dem Zusammenbruch der DDR – ich sage absichtlich nicht Wende dazu.
Bruhns: Ich sag das auch nie.
Boom: Ich hasse dieses Wort.
Bruhns: Ich sag immer Mauerfall.
Boom: Meine Mutter hat kurz nach dem Zusammenbruch gesagt, es sei ein verpfuschtes Leben gewesen, alles. Sie war damals Anfang 60 und sagte, alles sei umsonst, vergeblich gewesen. Mit diesem Gefühl hat sie dann noch über zehn Jahre gelebt. Das fand ich sehr bitter, sehr traurig.
Hat Ihnen die Uneinsichtigkeit Ihres Vaters da fast besser gefallen?
Boom: Nein. Ich möchte das nicht gegeneinander aufwiegen.
Bruhns: Aber er ist sicher besser damit zurechtgekommen.
Boom: Ja, klar.
Bruhns: Ach, Männer!
Boom: Ja, typisch Männer. Verdrängen! Meine Mutter hat sich eingeschlossen in ihrer kleinen, dunklen Wohnung in Wilmersdorf. Sie hatte kaum noch Freunde, war völlig von der Welt abgeschlossen. Und der Alte, der Mann, fährt ins Licht – er hat ja noch mit einer jungen Frau ein schönes Leben geführt.
Würden Sie sich wünschen, dass Ihre eigenen Kinder irgendwann mal den Versuch machen, Sie als Person kennen zu lernen?
Boom: Ja.
Bruhns: Ja, das fänd ich eigentlich ganz schön. Manchmal denk ich, meine hinreißenden Kinder, mit denen ich ein wunderbares Verhältnis habe, könnten ruhig ein bisschen weniger an sich selber und ihre Bedürfnisse denken und einfach mal ein bisschen gucken, wie das denn bei mir so zugeht. Aber das ist eine Illusion. Und es ist doch auch so, dass ich als Mutter auch irgendwo zumache. Letztlich empfände ich das als grenzüberschreitend, wenn die jetzt anfangen würden, in meiner Psyche rumzukramen...