Sind wir von Geburt an Sünder?
"Sind so kleine Füße...", sang man einst, denn Kinder galten als Inbegriff der Unschuld. Dabei gibt es gute Gründe, sie als sündig anzusehen
Portrait Burkhard Weitz, verantwortlicher Redakteur für chrismon plusLena Uphoff
06.08.2013

"Sind so kleine Hände, winz’ge Finger dran. Darf man nie drauf schlagen, die zerbrechen dann. Sind so kleine Füße mit so kleinen Zehn. Darf man nie drauf treten, könn’ sie sonst nicht gehn." So dichtete 1978 die Liedermacherin Bettina Wegner über die Kinder, die – unbelastet von den Einflüssen der Erwachsenenwelt – ins Leben starten. Solche Lieder haben lange Zeit unsere Vorstellung vom unschuldigen Kind geprägt.

Portrait Burkhard Weitz, verantwortlicher Redakteur für chrismon plusLena Uphoff

Burkhard Weitz

Burkhard Weitz war als chrismon-Redakteur bis Oktober 2022 verantwortlich für die Aboausgabe chrismon plus. Er studierte Theologie und Religionswissenschaften in Bielefeld, Hamburg, Amsterdam (Niederlande) und Philadelphia (USA). Über eine freie Mitarbeit kam er zum "Deutschen Allgemeinen Sonntagsblatt" und war mehrfach auf Recherchen in den USA, im Nahen Osten und in Westafrika. Seit November 2022 betreut er als ordinierter Pfarrer eine Gemeinde in Offenbach.

Aber es gibt auch solche Meldungen: Ein Grundschüler sticht seine Lehrerin nieder; ein Junge, mitten in der Pubertät, läuft Amok in der Schule; Mädchen quälen eine Außenseiterin. Die Vorstellung von der reinen Kinderseele lässt allzu viele Fragen offen. Psychologen und Pädagogen müssen sich ganz schön ins Zeug legen, um die Ursachen der Gewalt von Kindern und Jugendlichen zu erklären. Mal suchen sie die Gründe in einer zerrütteten Familie, mal im Leistungsdruck in der Schule, mal in genetisch bedingter Verhaltensauffälligkeit. Ist das unsoziale Verhalten, zumindest in manchen Fällen, von Anfang an da?

In der alten christlichen Lehre gilt der Mensch von Geburt an als Sünder. Entgegen einem verbreiteten Missverständnis bezeichnet das Wort Sünde allerdings nicht die einzelne moralische Verfehlung, sondern etwas Grundsätzliches: die Entfremdung des Menschen von Gott. Entfremdung bedeutet hier: Der Sünder verschließt sich für das, was Gott ihm sagen will. Das heißt: Er überhört die innere Stimme, die ihn an das erinnert, was moralisch geboten wäre, zum Beispiel achtsam mit anderen Menschen umzugehen.

Sünde kann aber auch die Deformation einer ganzen Gesellschaft bezeichnen. Das heißt: Kinder werden in soziale Verhältnisse geboren, die es ihnen schwer machen, gute Menschen zu werden. Die christliche Tradition sagt deshalb: Jeder Mensch kommt im Machtbereich der Sünde zur Welt. Das Kind selbst ist daran unschuldig. Es steht gleichwohl im Bann der Sünde.

Sünde entsteht aus dem Wunsch, wie Gott sein zu wollen

Ein biblischer Mythos erzählt, wie die Sünde entstand. Adam und Eva lebten im Paradies in Einklang mit Gott. Die Schlange, Symbol der Zerstörung, verführte die beiden dazu, von der Frucht eines Baumes zu essen, deren Genuss ihnen Gott verboten hatte. Die Schlange stellte ihnen etwas Verlockendes in Aussicht: zu sein wie Gott und also Gutes und Böses zu erkennen. Von dieser Aussicht verführt, missachteten Adam und Eva das Verbot. Und was erkannten sie? Dass sie nackt und bloß, also schutzlos waren. Deshalb versteckten sie sich vor Gott (1. Mose 3).

Nach dieser Geschichte entsteht Sünde aus dem Wunsch, wie Gott sein zu wollen: unfehlbar, unverletzlich, unsterblich. Der Kirchenlehrer Augustin (354–430) nannte diese Sünde die "Ursprungssünde" (lateinisch: peccatum originalis). Seine Auffassung: Dieser Sündenfall ereigne sich täglich von neuem und zwar im Leben jedes einzelnen Menschen. Diese Ursünde ist also kein einmaliges historisches Ereignis. Irreführend ist deshalb die deutsche Übersetzung des Wortes mit "Erbsünde".

Der Reformator Martin Luther (1483– 1546) machte sich wenig Illusionen über die Fähigkeit des Menschen, sich grundlegend moralisch zu bessern. Der Mensch sei so in der Sünde gefangen, dass er sich nicht aus eigener Kraft befreien könne. Gerade diejenigen, die sich um moralische Perfektion bemühten, stünden besonders in Gefahr, eitel und arrogant zu werden, warnte Luther. Viel besser ergehe es denen, die um ihre eigene Fehlerhaftigkeit wissen und sich deshalb mit moralischen Urteilen über andere zurückhalten. Luther ließ seiner Verachtung für Scheinheiligkeit gern und oft freien Lauf. Einmal schrieb er sogar: "Pecca fortiter!" Auf Deutsch: "Sündige stark – doch glaube noch stärker an Christus, den Sieger über alle Sünde." Wer hart mit sich ins Gericht gehe, brauche nicht zu verzweifeln. Sein himmlischer Richter, Christus, sei gnädig und rechne dem reuigen Sünder seine Schuld nicht an.

Mit sich ins Gericht gehen oder schon von vornherein auf die Stimme des Gewissens hören – das kann aber nur, wer es auch gelernt hat. Je kleiner Kinder sind, desto mehr sind sie daher Opfer der Umstände, in denen sie aufwachsen. Sie können wenig dafür, wenn sie die Laster ihrer erwachsenen Umgebung nachahmen. Kinder müssen Regeln respektieren lernen. Eine Chance, das zu lernen, haben sie nur, wenn sie durch Liebe und Zuwendung eine starke Selbstsicherheit entwickeln, nicht aber, wenn sie mit Schuldgefühlen überfordert und eingeschüchtert werden.

In Kindern reift das Bewusstsein für das, was sie anderen Menschen an Verletzungen zufügen, allmählich heran. Sie sind nicht im vollem Maße schuldfähig. Erst der mündige Mensch muss für seine Sündhaftigkeit geradestehen. In Sünde lebt er aber schon von Geburt an.

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