Die Nächte waren am schlimmsten. Er wälzte sich auf seinem Bett hin und her und starrte abwechselnd die türkisfarbenen und rosa Wände an, die seine Mutter vor langer Zeit gestrichen hatte. Wenn er ein Auto hörte, sprang er zum Fenster und sah aus dem zweiten Stock in den Hof hinunter. Kamen sie schon, um ihn zu holen? Wenn er einnickte, träumte er davon, wie die Polizei durch die Wohnungstür brach und er über die Dächer der Zuckerfabrik floh. Wie er rannte und rannte, die Dorfstraße hoch, schneller als in jedem Handballspiel, und wie sie ihn dann doch einholten, packten, in einen Kleinbus stießen. Meistens wachte er an dieser Stelle auf. Für das, was danach kommen sollte, hatte er keine Bilder. Er ist noch nie geflogen. An den Kosovo kann er sich nicht erinnern. Um fünf Uhr kroch er gerädert aus dem Bett, um mit dem Bus zur Arbeit nach Hildesheim zu fahren. Im Bus fühlte er sich sicher, er schlief sofort ein.
"Ich habe noch nie in meinem Leben so eine Angst gehabt", sagt Elvis Berishaj heute, drei Monate später. Er sitzt mit angezogenen Beinen auf seinem Bett. In Adidasklamotten, klein, drahtig. Auf dem Stuhl stapeln sich seine Trainingssachen, Tennissocken, T-Shirts, die seine Mutter gewaschen und ordentlich zusammengelegt hat. Ein 18-Jähriger in seinem Kinderzimmer. Der Teppichboden ist bedruckt mit bunten Autos und Straßen.
In diesen drei Monaten ist er einmal durch die Hölle und den Himmel gegangen. Krass, was ihm da passiert ist. Deutschland wollte ihn loswerden, aber sein Dorf und sein Verein - was fast dasselbe ist - hielten zu ihm. Hielten ihn fest. "Wir sind gegen die Abschiebung von Elvis", stand auf der Unterschriftenliste, die sie für ihn im ganzen Landkreis herumreichten. Auf Handballturnieren, beim Bäcker, in Schulen. Über 4000 Namen insgesamt, allein 600 Unterschriften in Dingelbe, einem Dorf in der Hildesheimer Börde. Maria B., die 71 Jahre alte Großmutter eines Handballkameraden, ging mit der Liste von Haus zu Haus.
Elvis aus Dingelbe. Das ist, nüchtern betrachtet, die Geschichte einer erfolgreichen Integration und einer verhinderten Abschiebung. Und zugleich ein Stück deutsche Realsatire. Sie handelt von einem fleißigen und etwas unbedarften Kosovoflüchtling, der ein besserer Deutscher sein muss, um hierbleiben zu dürfen. Von einer fiesen Ausländerbehörde und von einem Dorf, in dem die Bewohner sich besser verhalten haben, als man es gemeinhin von ihnen annimmt.
Zum Training kam Elvis schon als Kind gern allein
Dingelbe, knapp 1000 Einwohner, über 850 Jahre alt, gelegen zwischen sanft ansteigenden Wiesen und Äckern, die sich bis zum Horizont ausdehnen und über die der Wind ungebremst hinwegfegt. Ursprünglich ein Bauerndorf, erzkatholisch. Bis vor kurzem, heißt es, war es hier noch verpönt, auf der Straße mit einem Protestanten zu reden. In den sechziger Jahren kamen die italienischen Gastarbeiter, um in der Zuckerfabrik am Dorfrand zu arbeiten. Und gingen wieder, als sie dichtmachte. In den neunziger Jahren kamen die Romaflüchtlinge aus dem Kosovo, um in der ausgebauten Ruine der Zuckerfabrik zu wohnen, wo sonst niemand leben wollte. An die achtzig Ausländer, sagt Ortsbürgermeister Johannes Ossenkopp. Mit Kind und Kegel, schwarzen Haaren und der Sitte, den Müll in den Hof zu schmeißen. Im Oberdorf habe man immer vom "Ghetto da unten" gesprochen. Heute sind sie alle wieder weg - abgeschoben, untergetaucht, so genau weiß das keiner hier. Nur die Familie von Elvis B. blieb.
Farije B. und ihre fünf Kinder zogen in den obersten Stock des leerstehenden Gebäudes, Zuckerfabrik Nr. 8. Heizung, Bad, vier Zimmer. Durch das Dach regnet es schon lange. Im Hausflur kriecht Schimmel an den Wänden hoch. Doch was kümmert einen Jungen der Regen, wenn gleich um die Ecke eine Sporthalle liegt, erbaut 1971 in der früheren Kesselhalle der Zuckerfabrik. "Die erste Sporthalle im Kreisgebiet mit internationalen Maßen", wie es in der Festschrift zur 850-Jahr-Feier von Dingelbe heißt. Die Sporthalle wurde für Elvis sein Zuhause.
Mit sechs Jahren, sie waren gerade erst in Deutschland angekommen, ging er schon zum Training. Wie alle Jungs aus Dingelbe und deren Väter und Großväter. TV Eiche Dingelbe, gegründet 1912. Das kleine Dorf hat ein halbes Dutzend Vereine. Männerchor, Schützenverein, Feuerwehr. Doch der Handballverein ist der größte. Über 400 Mitglieder. "Wer in Dingelbe dazugehören will, muss einem Verein beitreten, sonst wird das nichts", sagt Ortsbürgermeister Ossenkopp geradeheraus. Ein freundlicher grauhaariger Mann im weinroten Strickpullover. Den Elvis kennt er schon von klein auf. "Ein braver Junge, bei allen beliebt." Bei Sonntagsausflügen mit dem Ortsverein ging er an seiner Hand.
Zum Training kam der Junge allein. Immer pünktlich, zuverlässig, sagt sein Handballfreund Sebastian Heiler über ihn. "Wir anderen hatten Väter, die uns die Sachen hinterhertrugen, beim Umziehen halfen. Elvis schnürte seine Turnschuhe von Anfang an selbst." Sein Vater war fort, er hatte die Familie kurz nach ihrer Ankunft in Dingelbe verlassen. Heute wohnt er im Emsland mit einer deutschen Frau. Erst zweimal, später fünfmal in der Woche trainierte Elvis. Zu Hause aß und schlief er zwischen Spitzengardinen und Porzellanfiguren aus einer ihm fremd gewordenen Kultur. In der Halle lebte er. Der Verein: "wie eine Familie". Er wurde, so drückt er es aus, "ein ganz normaler deutscher Jugendlicher".
Elvis läuft die Dorfstraße hoch. Wind und Traktorengeräusche. Sein Weg seit zwölf Jahren. Erst zum Kindergarten, dann zur Grundschule, später zur Bushaltestelle, um ins Nachbardorf in die Realschule zu fahren. Und jetzt nach Hildesheim in das AMEOS-Klinikum, wo er nach seiner mittleren Reife eine Ausbildung als Krankenpfleger macht. Aus der Küche eines Bauernhofs winkt ihm ein Junge zu. Drei Autos, die vorbeifahren, halten kurz an. Fenster werden heruntergelassen, junge Männer gucken raus. "Hey, Fettsack! " So begrüßen wir uns hier immer, sagt Elvis und lacht. "Mein Dorf."
Zwölf Jahre lang hatte er zwei Leben in Deutschland. Das eine fand zwischen Zuckerfabrik, Sporthalle und Schule statt. Das andere gab es nur zwischen zwei Aktendeckeln in der Ausländerbehörde von Hildesheim. Was Elvis nicht wusste: Laut dieser Akte war sein Leben in Deutschland begrenzt. Es würde mit seiner Volljährigkeit enden, denn wie seine im Kosovo geborenen zwei Geschwister ist Elvis in Deutschland nur geduldet. Im Gegensatz zu seiner Mutter, die inzwischen mit einem Deutschen verheiratet ist und damit einen Aufenthaltstitel hat. Eine Duldung ist juristisch gesehen kein legaler Aufenthaltsstatus. Wer geduldet ist, lebt rechtlich wie auf einem Bahnsteig, ohne Aussicht, jemals wirklich anzukommen. Elvis hat sich nie Gedanken darüber gemacht, warum er selten weiter als bis Hannover gekommen ist, denn Geduldete dürfen das Bundesland, in dem sie wohnen, nicht verlassen. Doch während er brav seinen Weg als Musterschüler und Musterhandballer verfolgte, lief seine Uhr in der Ausländerbehörde ab. Im Herbst 2009, kurz nach seinem 18. Geburtstag, kollidierten seine beiden Leben. Er erhielt einen Brief mit der Aufforderung, seine Integrationsbemühungen auf dem Amt vorzuweisen. Und so kam es, dass er mit weichen Knien und mit lauter guten Zeugnissen unterm Arm die Treppen der Behörde hochstieg. Ausländerbehörde. Allein das Wort, erzählt er, war furchteinflößend. Was hatte er mit Ausländern zu tun?
Ihm war tatsächlich nicht klar, was derzeit so vielen Menschen passiert, die wie er aus dem Kosovo geflohen sind. Denn seit der Staat selbstständig ist, sollen etwa 14 000 Kosovoflüchtlinge in Deutschland, davon fast 10 000 Roma, wieder in den Kosovo zurückkehren - obwohl das Leben dort zwischen Serben und Albanern für die Romaminderheit politisch und wirtschaftlich nach wie vor nicht sicher ist. In Niedersachsen fanden laut Flüchtlingsrat im ersten Quartal 2010 bereits 52 Abschiebungen in den Kosovo statt, mehr als im ganzen Jahr 2008. lvis hatte sich wie die meisten seiner Freunde mit Politik nie beschäftigt. Er hatte also viele Fragen an den Mann von der Behörde, der wortlos seine Zeugnisse kopierte und sie ihm dann wieder in die Hand drückte. "Sie hören von uns", mehr sagte er nicht. Nie zuvor im Leben, sagt Elvis, habe er sich so schlecht behandelt gefühlt. Beim Training abends spielte er aggressiver als sonst.
Nun muss man an dieser Stelle erwähnen, dass es in den komplizierten deutschen Aufenthaltsgesetzen seit 2007 ein Gesetz gab (auch Altfallregelung genannt), das es langjährig Geduldeten erlaubte, ein Bleiberecht zu beantragen. Und wer gut integriert war, Deutsch sprach und Geld verdiente, hatte große Chancen, dieses Bleiberecht zu erhalten. Insofern machte die Aufforderung an Elvis, seine Integration zu belegen, durchaus Sinn. Doch niemand machte ihn auf diesen Antrag, dessen Frist Ende Dezember 2009 auslief, aufmerksam. Der Termin verstrich. Und am 21. Januar 2010 bekam er den zweiten Brief von der Ausländerbehörde. "Sehr geehrter Herr Berishaj. Ich habe Sie zur Rückführung in das Kosovo angemeldet (. . .) und weise darauf hin, dass Sie in absehbarer Zeit mit der Abschiebung rechnen müssen." Als Elvis den Brief las, versagten seine Beine, alle Kraft verließ ihn. Er legte sich ins Bett und fiel weiter. Schlief nicht mehr, sprach mit niemandem.
Nur seine Mutter wusste Bescheid. Farije B., 37 Jahre alt. Graue Strähnen, müdes Gesicht, weiße Socken in billigen Sandalen. Ihre Kinder finden, dass sie sich wie eine Albanerin kleidet. Sie ist oft müde, antriebslos, verbringt die Tage zwischen Essen kochen und Wäsche waschen auf dem Sofa vor dem Fernseher. Früher hat sie geputzt, dann kam noch die kleine Jessica vor vier Jahren von dem deutschen Mann. Seither ist sie arbeitslos. "Ich hatte viel Stress in meinem Leben." Mit diesem Satz fasst sie alles zusammen, den Krieg im Kosovo, die vielen Leichen auf der Straße, die Flucht auf einem Traktoranhänger, später auf einem Lastwagen, die Monate im Lager in Zagreb. Seit sie in Dingelbe ankamen, hat sie immer wieder diese Kopfschmerzen. Auf Dorffesten sieht man sie nie. "Doch sobald man sie allein lässt, weint sie", sagt ihr Sohn.
Den Kosovo vermisst sie nicht. "Die Roma werden überall unterdrückt. Kein Zuhause, nirgends", sagt sie leise. Ihren Kindern hat sie nie von ihrer Herkunft erzählt. Ob Elvis ein Roma ist? Klar, sagt die Mutter. Echt?, fragt Elvis. Kommen die Roma aus Rom?, fragt seine Schwester Elvira, 15.
In den Ferien bleibt Elvis in Niedersachsen. Er darf ja nicht weg
Doch an einem kalten Tag Ende Januar erhob sich Farije B. von ihrem Sofa und fuhr mit ihrem Sohn nach Hannover zu einem bekannten Anwalt. 300 Euro cash, mehr hatte sie nicht. Sie hat viel falsch gemacht in ihrem Leben, die Schule nach zwei Jahren geschmissen, versäumt, für ihre Kinder Pässe zu besorgen - sonst hätten Elvis und seine beiden Geschwister schon längst einen Aufenthaltstitel über sie bekommen können. Doch diese 300 Euro retteten Elvis das Leben in Deutschland. Der Anwalt benachrichtigte die Presse, und drei Tage später konnten es alle in Dingelbe und den umliegenden Dörfern lesen: "Elvis, unser Handballkamerad, soll ausgewiesen werden."
In zwei Tagen mobilisiert sich das ganze Dorf. Sonntags um elf Treffen im Dorfgemeinschaftshaus, die Leute sitzen auf den Fensterbänken, auch zwei SPD-Politiker aus dem Landtag sind gekommen. Die Unterschriftenliste wird geplant, außerdem ein Benefizspiel des TV-Dingelbe in der großen Sparkassenarena von Hildesheim, um Geld für die Prozesskosten zu sammeln. Die Landtagsabgeordneten wollen Druck auf den Innenminister ausüben, und dann soll die Sache vor die Härtefallkommission. Eine unabhängige Instanz, die Elvis zu einem Aufenthaltstitel verhelfen kann.
Elvis ist unterdessen zum zweiten Mal in seinem Leben auf der Flucht. Du kannst nicht mehr zu Hause schlafen, die kommen frühmorgens, sagt ihm eine Frau aus dem Dorf. Elvis packt seine Sporttasche, zuerst die Trainingssachen, und zieht zu seiner Freundin Saskia ins Nachbardorf. Farije weint beim Abschied. Abends sitzt die Mutter seiner Freundin mit ihm lange am Küchentisch und heckt Fluchtpläne aus. "Wenn sie bis hierher kommen, musst du in die Kirche rennen. Du kannst doch rennen." azu kommt es nicht. Denn was dann passiert, sagt Uwe Wedekind vom Hildesheimer Verein Asyl e. V., das habe er in den 15 Jahren seiner Tätigkeit noch nicht erlebt. "Ein ganzes Dorf stellt sich hinter einen Flüchtling und schafft es innerhalb von einer Woche, eine Abschiebung vor den Landtag zu bringen und zu verhindern." Am 22. Februar geht die Meldung über den Nachrichtenticker: Innenminister Schünemann stoppt Abschiebung eines 18-Jährigen. Der aus dem Kosovo stammende Elvis B. sei "ein Musterbeispiel für Integration".
Und jetzt? Die nächste Hürde steht Elvis noch bevor. Zwar hat er schon mündlich von einem Mitglied der Härtefallkommission erfahren, dass er bleiben darf. Doch offiziell fällt die Entscheidung erst im Sommer. Und dann braucht er endlich einen Pass. Ohne Pass kein Aufenthaltstitel. Was etwas verzwickt ist, denn die kosovarische Botschaft in Berlin bearbeitet noch nicht alle Anträge. Und in den Kosovo fahren, um sich dort einen Pass zu besorgen? Auf keinen Fall fährt er dahin, sagt Elvis, niemals, und wird ganz klein. Herr Wedekind von Asyl e. V. rät ihm, es über die serbische Botschaft zu versuchen. Doch das ist teuer. Beim Osterfeuer in Dingelbe haben sie schon mal dafür gesammelt.
Unterdessen läuft der Alltag für Elvis weiter. Tagsüber acht Stunden Zahnprophylaxe für Demenzkranke. Danach eine Stunde Treffen mit Saskia, ein bisschen Rumträumen von Reisen nach Spanien zu ihrer Tante, wenn er mal einen Pass hat. Die Sommerferien werden sie wie immer in Niedersachsen verbringen. "Elvis darf ja noch nicht weiter weg", sagt Saskia bescheiden.
Abends Training, Erste Herren. Der Wind fegt über die Felder, die Windräder brummen, dichte Dunkelheit umgibt die Sporthalle am Rand des Dorfes. Drinnen rennen 14 Männer hin und her. Und da ist es wieder: das Quietschen der Gummisohlenauf dem Hallenboden. Der Geruch von Schweiß und Staub. Der Klebstoff an den Fingern, genannt Peke, und der Duft von Babyöl, um ihn nach dem Spiel wieder loszuwerden. Die Freude in den Gesichtern der Handballkameraden. Schulterklopfen, Umarmungen. Und hinterher der Kasten Bier in der Umkleidekabine. Heimat.