„Pass doch auf, du Idiot!“, schnauzte er Lundquist an. Einen Moment hielten sie inne, um in die Stille zu lauschen, die kurz durch das Geschepper von dem Topf unterbrochen wurde, über den Lundquist gestolpert war. „Los, weiter!“, blaffte er. Lundquist hob mit konzentrierter Kraft den Müllsack erneut an. „Ist das Ihr Kind?“, fragte die ältere Dame und hielt mir unseren kleinen Niki entgegen. Werwaswo? Ich legte eine Hand über die Augen, um nicht gegen die gleißende Sonne schauen zu müssen. Auf Armlänge vor mir schauten mich zwei Paar Augen an. Eines, vorwurfsvoll, gehörte zu einem mit Dauerwellen umrahmten Gesicht. Das andere, neugierig, gehörte zu Niki. Strandgeräusche drangen an meine Ohren, die gerade noch in die Stille des einsamen norwegischen Bauernhofes hineingelauscht hatten, wo der schreckliche Tätowierer
mit Lundquist eben dabei war . . .
„Ihr Sohn war schon bis oben zur Promenade gekrabbelt!“, kam es wütend aus dem Dauerwellen-Gesicht. Unausgesprochen schwangen Worte mit wie „Rabenvater“, „Fall für die Super Nanny“, „Jugendamt“. Ich konnte gerade noch den Krimi, bei dem ich an der spannendsten Stelle angelangt war, zur Seite legen, als die mir unbekannte Großmutter tief Luft holte. „Sie sind ja wohl, ach was, das ist ja das allerletzte . . .“ Und sie schob davon zu ihrem Strandkorb, empfangen von weiteren interessierten Badegästen, die sich gleich ihre Heldentat anhören würden. Kleines hilfloses Kind gefunden! Und der Vater seelenruhig am Lesen! Ich überlegte noch, wie ich das alles meiner Frau erklären würde, wenn sie und Nikis große Schwester vom Eisessen zurückkämen. Und wie lange ich das Buch erst einmal nicht anfassen könnte. Ich spürte körperlich, wie feindselige Augenpaare mich aus den Strandkörben immer noch observierten und nur auf die geringste Bewegung warteten, die Richtung Buch gehen könnte. Ich bin sicher, ich wäre auf der Stelle verhaftet worden.
Lesen ist gefährlich! Ein gutes Buch kann den Leser entführen. Man vergisst alles um sich herum und taucht ab in andere Welten. Ja, gut, ab und zu muss man auch mal auftauchen. Kinder einfangen, Rücken einölen, Cornetto Nuss holen. Aber dann schnell wieder – nix wie weg. Abtauchen. Wenigstens eine Geschichte am Tag, doch, das geht. Eine Geschichte lang kann einem die Welt da draußen egal sein. Soll die Sonne doch brennen – und die Kinder wegkrabbeln.
Jetzt lass mich doch diese eine Geschichte in Ruhe lesen, könnten Sie Ihrer Frau sagen, guck, die ist gar nicht lang. Und Ihre Frau könnte sagen, psst, Kinder, Papa liest. Gleich baut er mit euch eine Sandburg, mit Staudamm. Aber ihr seht doch, dass er jetzt gerade liest. Noch Fragen? Hier sind die wichtigsten Antworten:
1. Buch oder Kindle?
Ich nehme lieber das Buch. Das kann ruhig mal im Sand liegen oder es kann ohne große Folgen mal Sonnencreme draufkommen. Mit einem Buch kann man auch lästige Kleininsekten erledigen. Aber bitte keinen Grundsatzstreit – Hauptsache was zu lesen!
2. Roman oder Geschichten?
Den Roman kann man später noch lesen, wenn die Partnerin ihn durchhat. Erst mal mit den Geschichten anfangen – man legt sich ja auch am ersten Tag nicht gleich zwölf Stunden in die pralle Sonne. Ein unschlagbarer Vorteil: Nach ein oder zwei Geschichten kann man auch mal zwischendurch andere wichtige Dinge erledigen. Den Ölstand beim Mietwagen kontrollieren, alle Funktionen des neuen Smartphones probieren, checken, ob die Marco-Polo-App wirklich alle Tankstellen gelistet hat.
3. Am Strand aus dem Buch vorlesen?
Das hängt vor allem von drei Faktoren ab: a) die Liegendichte. Für Ihre Vorleselautstärke gilt: je dichter, desto leiser. Und vergessen Sie nicht: Was Sie gerade spannend oder lustig finden, ist für andere ohne die ganze Geschichte nicht nachvollziehbar. b) Wenn Sie in einer Umgebung sind, in der alles, aber nicht deutsch gesprochen wird, können Sie unbeschwert loslegen! Die anderen verstehen es eh nicht und insofern wird es niemanden ablenken. c) Ist der Empfänger aufnahmebereit? Vielleicht will Ihre Partnerin gerne selber ungestört lesen oder befindet sich gerade in der Tiefenentspannung. Frauen mögen das nicht so gerne mit dem Rumzappen, die lesen lieber was am Stück.
4. Was machen die anderen? – So schlagen wir die Engländer!
Befinden Sie sich in Ihrem Urlaub im fremdsprachigen Ausland? Fällt Ihnen auf, was bei den Engländern oder Schweden auf ihren Plätzen zwischen Taucherbrille, Sonnencreme und Aufblastieren liegt? Bücher! Noch lesen andere im Urlaub mehr als wir. Also: Lesen – dann können wir sie überholen!
5. Immer der Reihe nach?
Sie haben ja Urlaub! Freizeit! Freie Wahl! Sie können sich Ihre Geschichten völlig frei auswählen – Sie können auch hinten
anfangen. Gerne können Sie es auch wie bei der Tageszeitung machen, da fangen Sie ja auch mit dem Sportteil an. Wer allerdings von vorne liest, wird merken, dass die Geschichten eine gewisse Komposition verfolgen: Wir fangen mit der Abfahrt an und enden mit dem „wieder zu Hause!“
6. Das Buch wieder mit nach Hause nehmen?
Wenn Sie das Buch von Ihrer Liebsten extra für diesen Urlaub geschenkt bekommen haben, sollten Sie es aus diplomatischen Gründen besser nicht zurücklassen. Extrapunkte bringt es auch, wenn Sie ausdrücklich darauf hinweisen, dass Sie das Buch unbedingt als schöne Erinnerung an diesen traumhaften und harmonischen Urlaub mit nach Hause nehmen möchten. Wenn Sie das Buch allerdings aus Platzgründen zurücklassen müssen, platzieren Sie es bitte so, dass andere Urlauber es vielleicht auch noch lesen.