Fast zwei Jahre sind vergangen, seit ich zum ersten Mal Atsu und Agbeshi vor mir sah. Sie waren 15 oder 16 Jahre alt, genau weiß so etwas keiner. Sie schauten mich mit fragenden, fordernden Blicken an. Hinter mir die leere Tafel, in der Ecke angelehnt ein Rohrstock, in meiner rechten Hand hielt ich bröcklige Kreide. Vor mir auf dem Tisch lag das Lehrbuch, daneben der staubige Tafelwischer. Der Raum war in feinen Kreidedunst gehüllt, weiße, im Sonnenlicht schimmernde Partikel. Durch die offenen Fenster wehte Staub von der Straße herein. Es roch nach verbranntem Plastik. In der Ferne rief ein Muezzin, an der Mauer gegenüber pries ein kleines Mädchen Wrigley's-Kaugummis an. Dazwischen das gleichmäßige Hobeln vom Schreiner nebenan.
Ich fragte Atsu nach dem Datum. Stille. Auch von Agbeshi keine Antwort. Ich wollte den Monat wissen - nichts. In welchem Jahr wir uns befinden. Immer noch Stille. Agbeshi brach das Schweigen: "We are in 2004! " Er war nah dran, 2007 wäre die richtige Antwort gewesen. Ich schrieb auf Englisch an die Tafel: "Die zwölf Monate des Jahres. Januar, Februar. .." Weiter kam ich nicht. Meine Schüler konnten ja gar nicht lesen. Ich griff zum Duster und wischte die Worte zu Staub, erst mal Buchstaben und Zahlen pauken. Natürlich wusste ich das vorher, doch war ich erschrocken, wie diese Jugendlichen so ganz ohne Zeitraster lebten. Sie orientierten sich lediglich an den Essenszeiten, an Sonnenauf- und -untergang, an Regen- und Trockenzeit.
Für die erste Klasse waren sie zu alt
Von August 2007 bis Juli 2008 habe ich Zivildienst in Ghana geleistet. Mit drei anderen Freiwilligen aus Deutschland habe ich Straßenkindern geholfen, so etwas wie einen regelmäßigen Schulalltag zu erlernen. Ghanaische Streetworker holen die Straßenkinder in den First Contact Place (FCP), das "Haus für den Erstkontakt", wo sie übernachten können. Dort lernen die Kinder, nach einem Plan selbst für sich zu kochen. Wir Helfer aus Deutschland bereiteten sie mit Unterricht auf die staatliche Schule vor. "Aktion Lichtblicke- Zukunft für Straßenkinder in Ghana" heißt das Projekt in Ashaiman - einer 180 000-Einwohner-Stadt in der Metropolregion Accra. 1996 hat es die Ordensgemeinschaft Oblaten des heiligen Franz von Sales gegründet.
Atsu und Agbeshi konnte man nicht mehr in die erste Klasse schicken, dafür waren sie zu alt. Sie sollten nach einem Jahr Vorbereitung gleich in die fünfte oder sogar sechste Klasse einsteigen. Ich sollte also zwei Schüler, die vorher noch nie eine Schule von innen gesehen hatten, innerhalb eines Jahres auf das Niveau von Fünftklässlern katapultieren.
Das gelingt nicht bei allen. Ein Junge namens Ulungu hatte zwischenzeitlich das Interesse an der Schule verloren und es vorgezogen, mit Gleichaltrigen in Ashaimans dunklen Ecken Drogen zu konsumieren. Nach ein paar nächtlichen Fahndungen spürte ihn einer der ghanaischen Streetworker auf, bewegte ihn, ins FCP zurückzukehren und sein Schuljahr zu Ende zu bringen.
Nach zwei Monaten konnte Atsu und Agbeshi die tägliche Frage nach dem Datum beantworten
Doch Atsu und Agbeshi waren aufnahmebereit und willensstark. Nach gut zwei Monaten war der zähe Kampf um Alphabet und Zahlen überstanden. Wir kamen von Plus und Minus zu Mal und Geteilt mit einfachen Zahlen, zu gemischten Brüchen, zum Gebrauch des kleinsten gemeinsamen Vielfachen und zu Kehrwerten. Maßeinheiten, Prozent- und Dezimalrechnungen hatten wir hinter uns gelassen, wir waren dabei, Umfang, Fläche und Volumen zu bestimmen. Ich stand vor der Tafel, wie immer die bröckelnde Kreide aus Fernost in der Hand. Und mit einem Mal wurde mir klar, wie fundamental sich Atsu und Agbeshi seit unserer ersten Begegnung verändert hatten. Sie konnten die morgendliche Frage nach dem Datum routiniert beantworten. Ihr Aggressionspotenzial hatte sich erheblich reduziert. Ganz zu Anfang hatte ich nach Misserfolgen ihre erhitzten Gemüter abkühlen müssen, damit nicht irgendwelche Gegenstände zu Bruch gingen. Ihre Leistungen hatten die beiden selbstbewusster gemacht.
In Ashaiman, der "Stadt Gottes", hatte ich inzwischen viel Zeit verbracht, ich habe monsunartige Regengüsse und wüstenartige Sandstürme erlebt, Straßenfeste und Straßenschlachten. Vor allem fand ich es traurig zu sehen, wie der Markt in Ghana (wie in fast allen Dritte-Welt-Ländern) von billigen ausländischen Produkten überschwemmt wird. Es gibt Fruchtsäfte aus Singapur, Kekse aus Thailand, Äpfel aus Südafrika, Marmelade aus Holland, Campina-Fruchtjoghurts aus Deutschland, Schokoriegel aus Saudi-Arabien und Bonbons aus China. MP3-Player, Radios, Handys und andere technische Geräte kommen aus Asien. Manche dieser Güter sind als Hilfe für arme Länder deklariert. Reis kommt fast nur aus den USA. Die Leute lassen die einheimischen Produkte liegen - zu teuer. Dass man mit dieser sogenannten Hilfe den lokalen Markt zerstört, wird höflich übersehen.
"rbb Laufbewegung Berlin" stand auf einem Altwagen aus Europa
Leider fehlt den Ghanaern oft der Sinn für Qualität. Die meisten ausländischen Produkte haben eine kurze Lebensdauer. Am Ende verbrennt Elektroschrott zusammen mit Autoreifen auf öffentlichen Müllhalden. Hauptlieferant für Autos ist offenbar immer noch Deutschland. Was beim TÜV nicht durchkommt, geht im Container auf die lange Reise über den Atlantik. Nicht selten mit den alten Aufdrucken. "rbb Laufbewegung Berlin" stand auf einem.
Monate später stranden die Altwagen in Westafrika. Unzählige kleine Werkstätten halten die verbeulten Blechkisten einigermaßen intakt. Einmal blieb ein Lieferwagen in unserer Straße liegen. Unter der Motorhaube sah ich zwischen einigen Kabeln eine offenbar zweckentfremdete Milchdose festgeschraubt. Ich weiß bis heute nicht, welche Funktion sie haben sollte. Erst wenn auch keine Milchdosen, keine aus Kautschuk improvisierten Gummiriemen und keine Armaturenbretter aus Holz die Kiste wieder flottbekommen, endet für die Autos das Abenteuer Afrika auf einem Schrottplatz. Jede verwendbare Schraube gelangt zurück in eine der Werkstätten und wartet auf den nächsten Auftrag.
Umso mehr erstaunte mich, wie traditionell die ghanaische Küche noch geblieben ist. In Accra, der modernsten Stadt Westafrikas, fand ich kein einziges McDonald's-Restaurant. Alle Gerichte sind scharf und lassen einem als Europäer die Tränen in die Augen schießen. Außerdem gehören traditionelle ghanaische Stoffe und frische Lebensmittel wie Tomaten und Eier zu dem wenigen "Made in Ghana", was von ausländischen Einflüssen weitgehend verschont geblieben ist.
Atsu und Agbeshi haben mir versprochen, etwas aus ihrem Leben zu machen
Fufu heißt das ghanaische Nationalgericht, ein fester Kloß aus Essbananen und Maniok. Der Brei, aus dem er besteht, wird stundenlang mit einem Holzstamm per Hand gestampft. Dazu gibt es Fleisch, kleine Krebse oder Fisch und eine sehr pikante Soße. Gegessen wird mit den Händen. Es braucht einige Zeit, bis man gelernt hat, die kleinen Krebse mit bloßen Fingern aufzuknacken. Vor der Abreise wurden wir deutschen Helfer gleich viermal zum Fufuessen eingeladen.
An einem der letzten Tage in Ashaiman gehe ich mit einem der jüngeren Projektkinder über den Markt. Der frische Duft der Mangos mischt sich mit dem strengen Geruch von Fisch und Krebsen. Was am Anfang noch eine absolute Reizüberflutung bot, ist in diesem Jahr zu einer vertrauten Umgebung geworden. Einige der Verkäufer kenne ich mit Namen. Die Preise sind mir geläufig, was das Handeln erleichtert. Und ich kann mich in dem Gewimmel orientieren!
Ashaiman ist für mich nun kein anonymer Slum mehr irgendwo in Westafrika. Den Lebensweg meiner beiden Schüler werde ich aus Deutschland verfolgen. Natürlich hoffe ich, dass sie irgendwann ihr ghanaisches Abitur in der Tasche haben. Was danach kommt? Atsu und Agbeshi haben mir versprochen, aus ihrem Leben etwas zu machen und es nicht auf der Straße wegzuschmeißen. Hoffentlich können sie das auch einhalten.
"ANDERE DIENSTE" IM AUSLAND
Strenggenommen dürfen Zivis ihren Dienst nur auf dem Gebiet der Bundesrepublik Deutschland leisten. Dennoch räumt ihnen das Bundesamt für Zivildienst (BAZ) die Möglichkeit ein, anstelle des Zivildienstes eine anerkannte Stelle für einen "Anderen Dienst im Ausland" anzutreten.
Wer dies tun will, kann sich bei einem Projektträger um eine Auslandsstelle bewerben. Eine vollständige Liste mit Anschriften der Träger, die das BAZ dafür auch anerkennt, findet sich im Internet unter www.zivildienst.de (dort unter der linken Menüleiste: "Dienst leisten" - "Einsatzmöglichkeiten/Alternative Dienste", rechte Spalte: "Anderer Dienst im Ausland"). Um Auslandsstellen muss man sich frühzeitig kümmern, am besten schon ein Jahr im Voraus.