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Die Apostelgeschichte erzählt vom Gerichtsverfahren und von der Steinigung des Stephanus, eines Armenpflegers in der frühen Gemeinde. Er geriet in Streit mit einer Gruppe hellenistischer Juden. Sie klagten ihn an: „Dieser Mensch hört nicht auf zu reden über die heilige Stätte, gegen den Tempel und gegen das Gesetz.“
Das Sterben des Stephanus ist der Passion Christi nachgebildet. Stephanus kommt vor den Hohen Rat wie er; er wird der Lästerworte gegen den Tempel angeklagt wie er; gegen ihn treten falsche Zeugen auf wie gegen ihn. Auch Stephanus bittet wie jener: „Vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun.“
Es gibt aber einen Unterschied: Von Stephanus wird berichtet, er habe vor seinem Tod den Himmel offen und den Menschensohn zur Rechten Gottes stehen sehen. Der Jesus, von dem Matthäus berichtet, hatte nichts als einen Schrei: „Gott, mein Gott, warum hast Du mich verlassen?“ Stephanus hatte nicht nur die Qual der Steine, die ihn getroffen haben. Er stirbt einen erhabenen Tod, er stirbt souverän, weil er sieht, wofür er stirbt: Er sieht den offenen Himmel. Er kann etwas über sein Sterben sagen und es deuten. Sein Leib wurde geschändet, seine Seele haben die Mörder nicht getroffen.
Christus stirbt einen ungedeuteten Tod wie die meisten Folteropfer.
Christus stirbt, wie man gemeinhin unter der Folter stirbt. Die Opfer stellen die alte Frage „Warum?“. Die meisten Opfer wissen nicht, warum sie aus ihren Häusern geschleppt werden; warum ihnen die Finger- und Fußnägel ausgerissen und warum ihre Genitalien verstümmelt werden. Die Opfer sollen gebrochen, sie sollen in ihrer Seele zerstört werden. Es mag Schmerzen geben, in denen Menschen ihre Souveränität behalten. Schwer ist dies bei einem Übermaß an physischen Qualen. Ziel der Folter ist, den Menschen das Menschsein zu rauben. Sie sollen nicht nur leiden, sie sollen wie Tiere leiden.
Christus stirbt einen ungedeuteten Tod wie die meisten der Folteropfer, zumindest nach dem Evangelisten Matthäus. Er sieht keinen Himmel offen, er hört keine Stimmen. Matthäus malt die Qualen jenes Sterbenden in den 22. Psalm hinein.
Wie von Christus ist vom verzweifelten Beter jenes Psalms gesagt, dass die Henker seine Kleider unter sich verteilten. Auch über ihn spotten sie und sagen sie kopfschüttelnd: Er hat Gott vertraut, er soll ihn befreien. Auch jener fremde Gemarterte stößt Christi Schrei aus: Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen.
Gott ist dabei, als gottverlassener Gott
Matthäus zitiert, wenn er den Tod des Gerechten beschreibt. Er zitiert den 22. Psalm, wenn er die Qualen Christi beschreibt. Damit sind diese Qualen mehr als eine nackte Tatsache. Er kennt mit dem Psalm den Ausgang der Sache: Gott verachtet nicht das Elend des Armen, denn des Herrn ist das Reich, auch das Totenreich, in das der Gefolterte gestoßen wird.
Christus am Kreuz hat kein Zitat, das seine Schmerzen erträglich und sinnvoll macht. Aber es gibt eine unglaubliche und unentbehrliche Nachricht, nicht belegt, widersprüchlich und darum kaum zitierbar: Jener Christus selbst ist das Zitat Gottes. Sein Schmerz zitiert den Schmerz Gottes. Sein letzter Schrei zitiert den Schrei Gottes.
Wenn es wahr ist, dann ist diesem Gott kein Schmerz fremd. Er ist dabei, nicht als Zuschauer, nicht als Schläger, sondern als Geschlagener, als gottverlassener Gott. Die unglaublichste und die unentbehrlichste aller Nachrichten! Einem, der dabei ist, kann man nichts mehr vorwerfen. Des gottverlassenen Gottes braucht man sich nicht zu schämen. Er ist der Einzige aus der großen Götterschar, den man achten und ehren kann.