Ursula Ott über aufgeblasene Phrasen. Dieses Mal: "unser Land"
Tim Wegner
09.11.2012

Seit ich in diesem Land lebe, bald ein halbes Jahrhundert, ist es nicht mehr dasselbe Land. Männer arbeiten im Kindergarten, Frauen werden Bundeskanzler, Dresden ist nur noch eine Zugfahrt und New York einen Mausklick entfernt. Ich lebe gern in einem Land, das ich mir als Kind noch nicht mal hätte vorstellen können.

Warum nur taugt die Wendung „Unser Land wird nicht mehr dasselbe sein“ neuerdings als Drohung? Halt, noch mal. „Was ist das für ein Land, in dem wir jeden Furz als Untergang des Abendlandes begreifen?“ So müsste man das Neudeutsch in einer Fernsehtalkshow sagen. Er möchte, sagte der unter Druck geratene Christian Wulff im Frühjahr bei Bettina Schausten, er möchte „nicht in einem Land leben“, wo er sich von Freunden kein Geld mehr leihen kann.

Vereinsleben? In unserem Land ist das bald unmöglich!

Fast wortgleich konterte ein halbes Jahr später der SPD-Kanzlerkandidat Peer Steinbrück den Vorwurf, er habe sich für ein Schach­turnier in der Bundeskunsthalle in Bonn eingesetzt. „In diesem Land“, erhob Steinbrück warnend die Stimme, sei bald kein Vereins­leben mehr möglich, wenn man noch nicht mal mehr ein Schachturnier sponsern dürfe. Noch düsterer klang, was der Philosoph Richard David Precht und der Hirnforscher Gerald Hüther im ZDF-Philosophiemagazin „Precht“ prophezeiten. „Wenn es uns nicht gelingt, das Schulsystem zu transformieren, wird es unser Land nicht mehr geben.“ Wie jetzt, gar nicht mehr geben? Unser schönes Land? Haben die gesagt.

Im „dieses Land“ darf man sich selbstverständlich die eine oder andere Sorge ­machen. Ob „unser Land“ es auf die Dauer aushält, dass ein Manager im Schnitt 54-mal so viel verdient wie seine Angestellten. Oder – wie „unser Land“ es fertigbringen konnte, Nazimorde über Jahre den türkischen Einwanderern zuzuschreiben. Das darf man schon mal besorgt fragen. Aber wenn Vereine ihre Schachturniere künftig selber bezahlen, wenn ein Bundespräsident regulär im Hotel übernachtet und der Hirnforscher seine Kinder weiter in die Regelschule schickt – das wird unser Land gerade noch verkraften. Ach ja, und dass unser Land in einem wei­teren halben Jahrhundert ein anderes sein wird, das will ich mal schwer hoffen...

Die Kommentarfunktion ist nur noch für registrierte Nutzer verfügbar. Um einen Leserkommentar schreiben zu können, schließen Sie bitte ein Abo ab, schreiben Sie uns eine Mail an leserpost@chrismon.de oder diskutieren Sie auf Instagram, Facebook und LinkedIn mit.