CHRISMON: Gesundheit ist laut Umfragen für die Deutschen das höchste Gut. Gilt das auch für Sie?
DIETRICH GRÖNEMEYER: Jede Kultur definiert Gesundheit anders. Die Chinesen sagen, es kommt auf den Ausgleich zwischen Ying und Yang an. Für mich geht es um Glücklichsein, Finden seiner eigenen Mitte. Dagegen geht es öffentlich bei uns oft nur um körperliche Gesundheit. Wir reden nur über Kosten. Aber die Sehnsucht nach Geborgenheit, Unversehrtheit, Selbstverantwortung ist hoch, und diese Sehnsüchte werden nicht mehr gestillt. Dadurch entstehen Krankheiten und werden chronifiziert.
CHRISTIAN WULFF: Das höchste Gut ist für mich nicht Gesundheit, sondern Zufriedenheit – mit mir selbst und damit, wie ich mich in meine Umgebung einbringe. Den Lebensinhalt sehe ich in der Zuwendung zu anderen. Das bringt viele Glücksgefühle.
Wie gehen Sie mit Ihrer Gesundheit um?
WULFF: Als ich als Ministerpräsident ins Amt kam und mir die desaströse Finanzlage und die ganze Verantwortung offenbar wurde, da hatte ich ein paar Tage lang einen Hexenschuss. Da hat sich die gesamte Last an der Wirbelsäule geballt. Man kann diesen Zustand mit Medikamenten lindern, aber eigentlich muss man zwischen den Anforderungen und dem, was man leisten kann, immer wieder ein vernünftiges Verhältnis herstellen. Dann geht es einem besser.
GRÖNEMEYER: Wir erleben ja gerade eine Wellness-Welle. Für mich ist das nur eine Art von Industrialisierung rund um den Körper. Sich des eigenen Körpers bewusst zu werden bedeutet viel mehr als Wellness. Es bedeutet auch, sich um seine geistig-seelische Zufriedenheit zu kümmern. Das kann eine Menge dazu beitragen, kein Magengeschwür oder keine Rückenschmerzen zu bekommen. Arbeitslosigkeit, Perspektivlosigkeit sind krank machend. Da laufe ich als Arzt hinterher, um auf die Signale des Körpers zu reagieren, aber das Gesundmachende müsste an anderer Stelle stattfinden. Laut Statistik sind Skeletterkrankungen und psychische Erkrankungen heute in Deutschland etwa gleich häufig. Wenn man genauer nachfragt, fallen aber weit mehr psychische Erkrankungen an: Viele Rückenschmerzen haben etwas mit der Psyche zu tun. Druck am Arbeitsplatz bringt Probleme im Nacken. Abwechslung zwischen Anspannung und Entspannung ist für mich ein wichtiges Lebensprinzip.
Die Deutschen suchen im Vergleich zu anderen Europäern besonders häufig Ärzte und Psychotherapeuten auf. Was macht uns so krank?
GRÖNEMEYER: Wir Deutschen sind momentan kein mutiges Volk. Wir gehen unsere alltäglichen Probleme nicht mehr beherzt an. Wir warten darauf, dass jemand anderes sie für uns löst. Das ist auch ein weltweites Problem: Die Reaktionen auf den Tod des Papstes haben gezeigt, dass viele Menschen auf der Suche nach einem Leitbild sind, nach etwas, was ihnen Kraft gibt, sich wieder aufzurichten, damit es nach vorne geht.
WULFF: Als medizinischer Laie hat mich immer fasziniert, dass es viele Wohlstandskrankheiten in Notzeiten gar nicht gibt. Wenn keine wirklichen Ziele, Aufgaben oder Belastungen da sind, treten Krankheiten auf, die sonst nicht vorkommen.
GRÖNEMEYER: Einspruch: Ich sehe heute viele alte Leute mit starken Rückenschmerzen, die sie in der Zeit nach dem Krieg einfach aushielten, die aber jetzt mit großer Macht zurückkommen. Aber ich stimme Ihnen so weit zu: Heute leiden wir eher lange Zeit vor uns hin. Besser wäre es, sich, etwa bei Rückenschmerzen, mal fünf Tage ganz zurückzuziehen und unsere Hausmittel anzuwenden. Danach wäre die Sache dann meist ausgestanden, und wir könnten auf lange Sicht besser durchhalten.
Woran leiden die Deutschen denn nun?
GRÖNEMEYER: Wir Deutschen leiden daran, dass wir nicht gesagt bekommen, was wir tun sollen. Uns fehlt der Mut zu sagen: Ich setze mich für mich selbst und für die Gemeinschaft ein. So bin ich noch groß geworden in meiner Familie und in der Kirche. Da habe ich gelernt, auch für die anderen da zu sein, ohne nach mir selbst zu fragen. Wir beneiden andere um ihre Fähigkeiten. Wenn jemand in Amerika eine tolle Erfindung macht, empfinden die anderen das als Ansporn für sich. In Deutschland reagiert man eher mit Ablehnung und Missgunst.
WULFF: Wenn man Leute fragt, wie es ihnen geht, hört man oft: „Ich kann nicht klagen“ – als wenn es eine Verpflichtung gäbe zu klagen. Wer sich freut, den Tag nutzt, gilt als naiv. Man sieht die Dinge erst mal skeptisch. In der Nachkriegszeit waren die Menschen dagegen optimistisch. Es konnte nur besser werden. Heute fürchten sie, dass die Gesundheitsbeiträge steigen, die Renten sinken. Viele Menschen verkrampfen, verfallen in Furcht.
Betrifft diese Furcht vor der Zukunft auch die Politik? Man erwartet ja, dass Politiker sehr viel bewegen können, aber sie wirken erstarrt.
WULFF: Dazu biete ich eine niedersächsische Variante: Unsere Haushaltslage ist sehr kritisch. Aber man kann sehr viel bewegen. Auf Veranstaltungen kann ich den Menschen zwei Dinge vermitteln: Wir haben Frieden, Freiheit, Demokratie. Trübsal blasen ist unangemessen. Lasst uns zwei Minuten nicht nur über Steuerreform, Verwaltungsreform, Rentenreform reden, sondern über alle Worte, die mit dem Buchstaben „Z“ anfangen: Zeit, Zuwendung, Zuversicht, Zivilcourage, Zukunft. Dann entdecken viele, dass sie sich darüber zu wenig Gedanken machen: mehr Zeit für Kinder, für alte Menschen, für sich selbst.
GRÖNEMEYER: Aber es muss noch eins hinzukommen: Handeln. Im Sinne von: Ich nehme mein Schicksal selbst in die Hand. Viele behaupten, im Gesundheitswesen sei gar keine Zeit für die liebevolle Zuwendung zum Patienten. Aber Empathie zu zeigen, das passiert doch in Sekunden. Das weiß jeder, der sich verliebt. Die Leute sollten nicht darauf warten, dass die Arbeitsplätze, die jetzt im Krankenhaus abgebaut werden, wiederkommen. Sie sollten selbst etwas dafür tun. Ins Handeln kommen, das eigene Rückgrat, die eigene Stärke spüren. Das fühlt man dadurch, dass man sich für den Mitmenschen engagiert.
Aber viele sind nicht zuversichtlich und fühlen sich um Zukunftschancen beraubt, gerade junge Menschen.
WULFF: Ich hatte auch nicht die besten Startchancen. Meine Eltern haben sich scheiden lassen, als ich eineinhalb Jahre alt war, und ich habe meinen Stiefvater verloren, als ich 14 war. Die Patchwork-Familie habe ich erlebt. Ich bin glücklich aufgefangen worden, auch durch Lehrer und Nachbarn. Ob Kinder früh gefördert oder sich selbst überlassen werden, das ist eine entscheidende Wegmarkierung. Mir ist es wichtig, mich an dieser Stelle auch selber ganz konkret einzusetzen.
Und bei Ihnen, Herr Grönemeyer, gibt es da Chancengleichheit? Ihr medizinisches Institut steht doch nur Privatpatienten offen.
GRÖNEMEYER: Ich engagiere mich für eine Medizin zwischen Hightech und Naturheilkunde, für eine sehr stark dem Menschen zugewandte Medizin, und ich behandele AOK-Patienten genauso wie Privatpatienten auf Rechnung. Ich kämpfe seit zehn Jahren dafür, dass die ambulante, Operationen ersetzende Form der Medizin, die ich praktiziere, endlich von allen Kassen anerkannt wird. Einige Kassen erstatten ihren Patienten inzwischen die Kosten, aber nur nach Antrag auf Kostenübernahme. Das ist ein Problem, dass der medizinische Fortschritt der Mehrheit der gesetzlich Versicherten immer weniger zur Verfügung steht. Egal ob privat oder nicht privat, die Frage, ob ich zugewandt bin, hat etwas mit dem Menschen zu tun, nicht mit dem Geld. Ich selbst bin übrigens Kassenpatient, weil ich nicht besser gestellt sein will als andere.
Sozial Schwächere haben also keineswegs die gleichen Chancen, etwa bestimmte Therapien zu bekommen, wie Bessergestellte.
GRÖNEMEYER: Es gibt eine wachsende Spaltung der Gesellschaft. Und der arme und kranke, auch der alte Mensch wird zunehmend kränker und isolierter. Diese tiefe Spaltung macht mich traurig, sie motiviert mich aber auch, meine Form von Medizin für alle zu ermöglichen. Wir wollen einen hohen Gesundheitsstandard, reden aber nicht darüber, wofür Medizin eigentlich eingesetzt wird, wie unser Menschenbild aussieht.
WULFF: Gesundheit hat nicht nur etwas mit medizinischer Versorgung zu tun, sondern auch mit elementarer Versorgung, zum Beispiel mit Ernährung. Es gibt bei uns immer mehr Schulen, in denen Schüler mittags eine warme Mahlzeit bekommen. Bei den ganz Kleinen müssen wir anfangen, indem wir in den Kindergärten feste Essensrituale schaffen. Wo gibt es das denn noch, dass mittags Vater, Mutter und Kind gemeinsam am Tisch sitzen? Dem begegnen wir in Niedersachsen mit Mehr-Generationen-Häusern, die wir in jedem Landkreis initiieren. Dort bekommen alte Menschen und Kinder einen Treffpunkt, und Langzeitarbeitslose kommen in ein Beschäftigungsverhältnis.
Ein Tropfen auf den heißen Stein?
WULFF: Vielleicht. Wir laufen atemlos hinter der Zeit her. Dadurch wirken wir so, als ob wir nur mühsam etwas reparieren, was nicht aufrechtzuerhalten ist. Immer Löcher flicken, immer aushelfen, da ist ein Loch, da wird dann Geld hingeschoben. So ist es lange auch bei den sozialen Sicherungssystemen gewesen.
Was können Sie dann tun?
WULFF: Mehr Vorsorge wäre sinnvoller. Aber in Zeiten knapper Kassen müssen wir auch an Selbsthilfegruppen und Gesundheitszentren sparen. Da habe ich ein schlechtes Gewissen. Aber wir haben zum Beispiel ein neues Präventionsgesetz gemacht, um vor den Folgen des Rauchens zu warnen: Wenn es uns dadurch gelingt, ein paar Prozent in der Jugend vom Rauchen abzuhalten, würden wir viel für Jugendliche tun und obendrein noch hohe Arztkosten sparen.
GRÖNEMEYER: Es geht darum, ein Bewusstsein über sich selbst zu bekommen, über die Funktionseigenschaften meines Körpers, über Krankheiten und wie ich selbst damit umgehe. Wenn dieses Bewusstsein fehlt, dann nützt auch kein Präventionsgesetz. Diese Fragen sollten Thema in den Schulen werden!
Als Politiker wie als Arzt unterliegen Sie strukturellen und finanziellen Zwängen. Wie gehen Sie damit um?
WULFF: (Stöhnt.) Das ist die schwerste Frage. Es geht erst einmal darum, diese Themen anzusprechen. Nun kann man ja sagen, das ist nicht viel. Aber ich glaube, der große Wurf ist schwierig, es müssen stattdessen viele kleine Schritte sein. Zum Beispiel haben wir in Niedersachsen ein Programm, wo Prominente Kindern etwas vorlesen. Ich habe letzte Woche in der Osnabrücker Stadtbibliothek 200 Kindern Märchen aus Osteuropa vorgelesen. Da habe ich rübergebracht, dass Europa viele Sprachen und viele Kulturen hat – gleichzeitig habe ich für das Lesen, für Phantasie und Kreativität geworben.
GRÖNEMEYER: Ich halte eine Rückkehr zur Spiritualität für wichtig: Es ist notwendig, mich zu begreifen als einen Teil einer globalen Gemeinschaft, globale Geschwisterlichkeit zu üben im Sinne von: Alle Menschen sind und werden Brüder. Solange das nicht passiert, werden wir auch viele Dinge des Alltags nicht entscheiden können. Ich rede nicht von Einheitskirchen und nicht darüber, welcher Glaube der richtige sei. Der Mensch ist einzigartig. Und diese Einzigartigkeit zu begreifen und gleichzeitig demütig zu sein setzt Kräfte frei. Politik nimmt sich zu wichtig. Die Ärzte nehmen sich zu wichtig. Wir alle sind Teil einer Gemeinschaft, die sich engagieren sollte für die Zukunft dieses gefährlich wackelnden Erdballs. Politik muss den Rahmen stellen, aber die Inhalte müssen die Menschen selbst schaffen.
WULFF: Die Religion ist der Halt, die Leitplanke, an der man sich bewegt. Ich glaube, es braucht Werte wie Demut, Barmherzigkeit, Solidarität. Die werden in kleinen Einheiten vermittelt, in der Familie, im Verein. Doch solche Strukturen werden labiler. Der zieht dorthin, der zieht weg. Vielen fehlt die Verlässlichkeit, das Vertrauen, sich fallen lassen zu können. Auch wenn meine Frau und meine Tochter die Woche über getrennt von mir in Osnabrück leben, ist es für mich absolut faszinierend zu wissen: Ich kann da jederzeit hin, und ich bin für sie da. Das macht Leben sinnvoll. Das ist für mich die gesteigerte Form der Selbstverwirklichung: sich um andere kümmern. Diese Prägung hatte ich durch meine Eltern. Mein Vater war Sozialdemokrat, als ich zehn Jahre alt war, hat er mich gefragt: Wohin neigst du? Er wollte, dass ich mich politisch orientiere. Mit 13, 14 bin ich bei der CDU gelandet, bin Schülersprecher geworden, habe den Stadtschülerrat gegründet. Bei uns in Niedersachsen gibt es ein wachsendes bürgerschaftliches Engagement. Das ist eine Bewegung, die zu fördern ist, weil der Staat nicht mehr alles machen kann. Die Politik darf sich tatsächlich nicht so wichtig nehmen.
GRÖNEMEYER: Ich hab gegen härtesten Widerstand versucht, in der Medizin Veränderungen zu schaffen, und neue Wege beschritten. Ich versuche, die Menschen, auch in der Politik, dazu zu bringen, wirklich vom Menschen her zu denken und zu handeln. Dagegen gibt es, gerade von Seiten bestimmter Interessengruppen innerhalb der Medizin, weiter starken Widerstand. In den Debatten geht es nur um Kosten, nie um den Menschen. Das versuche ich zu verändern durch das, was ich erforsche und wie ich als Arzt praktiziere. Ich habe mit anderen zusammen einen Stein ins Rollen gebracht. Mehr kann ich auch gar nicht.
Foto: Frank Schinski
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