Fotograf: Thomas Straub
Zigtausende Menschen demonstrierten 1986 gegen die atomare
Aufbereitungsanlage Wackersdorf, unter ihnen sehr viele Christen: Ihr Kruzifix im Hüttendorf wurde zu einem umstrittenen Symbol
13.07.2011

Es ist der zweite Weihnachtsfeiertag 1985. Am Himmel über dem verschneiten Taxöldener Forst kreisen Polizeihubschrauber. Das erste Hüttendorf wurde nach zwei Tagen geräumt, dieses steht nun schon seit einer Woche. Stefan Preisl muss sich beeilen. In Wollmütze und Handschuhen beugt er sich über einen Fichtenstamm – den größten, den er finden konnte. Er hämmert das Stemmeisen ins Holz.

Es ist eisig, minus fünfzehn Grad, aber Preisl muss bald schon wieder die Klamotten wechseln, so verschwitzt ist er. Drei Tage lang fliegen die Späne zu den Schneeflocken auf den Waldboden, dann ist der Christuskörper fertig. Er nagelt ihn an Händen und Füßen an ein zehn Meter hohes Fichtenkreuz und richtet es gemeinsam mit einem Dutzend Helfern auf. Ein Priester weiht das riesige Kruzifix, das „alle Brutalität von diesem Platz verbannen soll“.

Abgebrochene Hände blieben übrig

25 Jahre später ist Preisl zurück in Wackers­dorf. In dem Wald, 40 Kilometer nördlich von Regensburg, wo sie damals gegen die geplante atomare Wiederaufbereitungsanlage protestierten. Heute ist er Baumpfleger, sein Vollbart ist lichter geworden und grau. Er kommt an eine Waldlichtung mit einer winzigen Kapelle – bayerisch „Marterl“. An den Bäumen hängen Kreuze, Kerzen, Blumen. Im April, zum Jahrestag der Tschernobylkatastrophe, haben hier 200 Gläubige einen Gottesdienst gehalten. Neben Gedenktafeln für die Demonstranten und Polizisten, die bei den Protesten ge­storben sind, hängt hoch an einer Fichte das, was von Preisls Christusfigur übrig geblieben ist: die abgebrochenen Hände.

Preisl setzt sich auf die Bank neben der kleinen Kapelle und erzählt: Ende zwanzig war er damals, gelernter Holzbildhauer, nicht sehr gläubig, auch nicht sehr politisch – aber das musste man im Wackersdorf der Achtziger auch nicht sein, um zu demonstrieren. Als im Dezember 1985 die Rodungen begannen, nahmen seine Freunde und er die gefällten Stämme und zimmerten daraus Hütten und Baumhäuser und gründeten die „Republik Freies Wackerland“. Irgendwann überlegte Preisl, was er als Künstler zu dem Protest beitragen konnte. „Ich wollte ein Symbol schaffen, das sie alle vereint.“

Polizeipfarrer beaufsichtigte den Abtransport

Eine Woche lang wachte sein Kreuz über dem Hüttendorf. Dann, am 7. Januar 1986, am Morgen nach dem Dreikönigstag, war der Feiertagsfrieden vorbei. 3000 Besetzer hatten sich im Dorf verbarrikadiert, 2000 Polizisten rückten mit Äxten, Sägen, Schlagstöcken und Gewehren an und trieben, trugen und prügelten die Besetzer aus dem Wald. Raupen rissen die Hütten nieder, das Kreuz wurde von den Beamten abgesägt und weggetragen – begleitet von einem Polizeipfarrer, der den würdevollen Transport des Gottessymbols beaufsichtigte. Wenig später gaben die Beamten es wieder heraus, die Demonstranten brachten die Christusfigur zum Marterl in der nahen Waldlichtung.

Von da an fanden dort jeden Sonntag Gottesdienste statt, Geistliche und Gläubige gründeten die „Marterlgemeinde“, bis zu tausend Menschen beteten im Protest unter Preisls Christus­körper. Bis er in der Nacht zum 20. Februar 1986 spurlos ver­schwand. Nur die fest angenagelten Hände blieben hängen. Die Polizei, die das Gebiet rund um die Uhr bewachte, wollte nichts gesehen haben. Die Demonstranten waren sich sicher: Der Diebstahl der Christus­figur wurde angeordnet.

Franz Josef Strauß verteufelte die christlichen Proteste

Als größter Feind der protestierenden Christen galt der ­bayerische Ministerpräsident Franz Josef Strauß (CSU). Ein Atomkraftwerk sei „Teil des ­göttlichen Auftrags“, behauptete er. Eine andere Haltung könne „theologisch nicht begründet werden“. Den Geistlichen, die auf dem Gelände der Aufbereitungsanlage Gottesdienste abhielten, warf Strauß „groben Missbrauch des Christentums“ vor. Sie betrieben nach seinen Worten „das Werk des Teufels und nicht das Werk Gottes“.

Einer der von Strauß verteufelten Geistlichen ist Leo Feichtmeier, damals Reli­gionslehrer und katholischer Pfarrer in Nittenau. Er war es, der den Text zur Weihe von Preisls Kreuz schrieb und der eine Woche später, als Beamten es absägten, den Lautsprecher der Autonomen ergriff und aus dem Johannesevangelium, Kap. 19, die Ver­se 38 bis 40 las: die Kreuzabnahme Jesu.

Die Sorgen des Bischofs

Heute ist Feichtmeier Ende siebzig und der Treffpunkt – eine einsame Bank an ­einer kaum befahrenen Landstraße – wirkt, als fürchte er noch immer, observiert zu werden. „Strauß war brutal!“, sagt er, dann wechselt er die Brille und holt einen Ordner aus seinem Jutebeutel hervor.

Er zeigt die Briefe, die ihm der Generalvikar Fritz Morgenschweis im Auftrag des Regensburger Bischofs schrieb: Sie untersagten ihm, an einer Adventsfeier auf dem Gelände der Aufbereitungsanlage teilzunehmen, aus Sorge, dass „Gebet und Gottesdienst politisiert und in eine Demonstration entfremdet“ würden. Feichtmeier hielt seine Andachten fortan in Zivil. Auf dem Höhepunkt der Proteste fragte der Generalvikar ihn und vier andere Pfarrer, die er als harten Kern des christlichen Widerstands ausgemacht hatte, wie sie ihren „angestrebten gewaltlosen Widerstand mit den tatsächlichen Gegebenheiten“ vereinbaren können. Er verbot ihnen, zu „noch so ehrlich und gut gemeinten religiösen Ver­anstaltungen“ einzuladen.

Der Religionslehrer bekam bald Konsequenzen zu spüren

„Dem Bischof saß der Strauß im Rücken“, sagt Feichtmeier heute. „Doch wir haben an eine höhere Macht appelliert. An die Er­haltung der Schöpfungsordnung.“ Die Konsequenzen bekam der Religionslehrer bald zu spüren: Das Kultusministerium hängte ihm ein Disziplinarverfahren an, drei Stunden lang wurde er vom Verwaltungsrichter verhört. Später wurde er gedrängt, seine ­Heimat Nittenau zu verlassen und die Jahre vor der Pension im 80 Kilometer entfernten niederbayerischen Dingolfing zu arbeiten.

Leo Feichtmeier gibt bis heute keine Ruhe. Zum 25. Jahrestag der Katastrophe von Tschernobyl­ hielt er eine Andacht in der kleinen Waldlichtung mit den abgebrochenen Händen der gestohlenen Christusfigur. Doch diese Hände nimmt heute kaum jemand wahr. Sie bleiben im Schatten eines mächtigen Kreuzes, an dem die zweite Christusfigur des Holzbildhauers Preisl hängt. Sie ist deutlich größer und schwerer als ihre Vorgängerin. Zu groß, um über Nacht zu verschwinden.

50 Männer richten das Kreuz auf

Als Preisl im Februar 1986 erfährt, dass seine Christusfigur vom Baum gerissen wurde, zögert er nicht lange. Während die Marterlgemeinde Geld sammelt, kauft er Bildhauerblöcke aus Weymouthkiefer, vier Meter lang, leimt sie zusammen und schraubt die erste Lage an die Rückwand seines Schuppens. Block für Block leimt er aufeinander – bis der Schuppen unter der Last einer Tonne Holz zu kippen beginnt. Er stützt den Schuppen ab und macht sich an die Arbeit. Sechs Wochen lang hämmert, sägt und meißelt er im Garten seines Elternhauses, zu Ostern ist sein Werk vollendet.

Ein befreundeter Zimmermann liefert das Kreuz, ein Bauunternehmer fährt einen Tieflader vor und drei Dutzend kräftige Helfer wuchten den Koloss auf die Ladefläche. In der Lichtung am Marterl haben die Stahlarbeiter der Maxhütte derweil eine e­iserne Halterung errichtet, mit Stahlseilen richten fünfzig Männer das gewaltige Kruzifix auf.

Dann explodierte Reaktorblock 4 in Tschernobyl

Am selben Tag, Ostersonntag 1986, protestieren bis zu 100 000 Menschen beim Ostermarsch nach Wackersdorf. Sie werfen Steine und Flaschen, die Bundespolizei setzt zum ersten Mal in ihrer Geschichte CN- und CS-Gas ein, das sie in die Tanks der Wasserwerfer füllt.

Einen Monat später explodiert der Reaktorblock 4 im Kernkraftwerk Tschernobyl. An Pfingsten feuern Demonstranten ­Eisenkugeln aus Steinschleudern und stecken Einsatzwagen in Brand. Die Polizeihubschrauber fliegen nun direkt über die Köpfe und werfen Gasgranaten in die Menge. Strauß vergleicht die ­Polizisten mit Soldaten, die das Land verteidigen, der Spiegel ­titelt: „Aufrüstung für den Bürgerkrieg“.

Das Einzige, was im Taxöldener Forst heute noch daran er­innert, ist Preisls mächtiger Christuskörper. Die Mitglieder der Marterlgemeinde sorgen dafür, dass er nicht verwittert, sie ­pflegen das Holz, vertreiben die Spechte und haben ihm ein Dach gebaut. Und irgendwann, in den Jahren nach dem Baustopp 1989, hat ein Unbekannter ein Detail hinzugefügt. Auf dem gesenkten Kopf des Christus steckt eine Dornenkrone aus Stacheldraht vom ­Wackersdorfer Bauzaun.

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In diesem Artikel wird die Geschichte des Kreuzes von Wackersdorf erzählt. Eines hätte allerdings etwas genauer dargestellt werden können. Der Widerstand wurde hauptsächlich von der einheimischen, christlich konservativen  Bevölkerung getragen, unterstützt von der Friedensbewegung und anderen Menschenrechtsgruppen, evangelischen und katholischen Pfarrern.

Zu autonomen Gruppen hatten weite Teile der Bevölkerung eher ein distanziertes Verhältnis. Dies änderte sich allerdings an Pfingsten 1986.
Im Vorfeld wurde der damalige Polizeipräsident  Fricker abgesetzt, weil er aus Sicht der bayerischen Staatsregierung nicht hart genug gegen die Demonstranten vorgegangen war.

An diesem Pfingsten 1986 setzte die Polizei massiv CS-Gas ein, und zwar weitab vom eigentlichen Baugelände. Dieses CS-Gas wurde aus Hubschraubern abgeworfen, auf Familien mit Kinderwagen, die das eigentliche Baugelände gemieden hatten, auf Würstlstände Infostände, ja sogar auf Rot-Kreuz Mannschaften. Durch die Luftwirbel der tieffliegenden Hubschrauber wurde das CS-Gas dann so richtig verteilt.
Jetzt erst (!) wurden die Polizeifahrzeuge, ein Mannschaftswagen und ein PKW (mit scharfer Munution im Kofferraum, die dazu noch explodierte), in Brand gesetzt.

Hans Schuierer, der damalige Landrat von Schwandorf, wird bis heute nicht müde, wie auch viele Zeitzeugen, darauf hinzuweisen, dass zuerst der Polizeiangriff mit CS-Gas und als Folge dessen der Angriff von Demonstranten auf die Polizeifahrzeuge erfolgte. Eine weitere Folge war, dass sich weite Teile der Bevölkerung mit den Autonomen solidarisierte.

Noch etwas muß besonders gewürdigt werden:
Die bayerische Staatsregierung ist mit CS-Gas, nach der Genver Konvention geächtet., in der militärischen Literatur als Lungenkampfstoff bezeichnet, auf die eigene Bevölkerung losgegangen. D.h. wenn sie das im Kriege gemacht hätte und hätte den Krieg verloren, wäre sie wegen Kriegsverbrechen abgeurteilt worden.
Dies sollte man nie vergessen.