Erst dachte ich: Das kann ich nicht. Sieben Tage lang nur über drei Fragen nachdenken. Aber dann bin ich doch zur Anstaltsleitung gegangen und habe mich zum Naikan-Schweigeseminar angemeldet. Ich wusste nur, dass Naikan aus Japan kommt und Innenschau bedeutet. Irgendwie hatte ich das Gefühl, dass mir das helfen könnte, mit meiner Tat fertig zu werden.
Und dann saß ich eine Woche lang zusammen mit sechs anderen Gefangenen hinter meinem Wandschirm und tauchte von morgens sieben bis abends neun Uhr in meine Erinnerungen ab. Was hat meine Mutter in den ersten sieben Lebensjahren für mich getan? Was habe ich für meine Mutter getan? Welche Schwierigkeiten habe ich ihr bereitet? Dann: Was hat mein Vater für mich getan? Was habe ich für ihn getan? Welche Schwierigkeiten habe ich ihm bereitet? Dann kamen die nächsten sieben Lebensjahre dran, bis heute.
Alle 90 Minuten sieben Lebensjahre
Alle 90 Minuten brachte mich ein Justizbeamter zum Naikan-Leiter in einen anderen Raum. Der stellte mir die drei Fragen, und ich hab ein paar Minuten erzählt. Kommentiert hat er nichts. Dann hat er mir aufgetragen, mich auf die nächsten sieben Lebensjahre zu konzentrieren.
Sonst ist ja immer Krach im Knast, dauernd knallen Türen, das Radio dudelt. Aber im Seminarraum war es wohltuend still. Es hat höchstens mal einer geweint oder über das vegetarische Essen geflucht. Manchmal legte ich mich zum Nachdenken auf meine Schaumstoffmatratze. Ich fand es am Anfang anstrengend, mich nur auf die drei Fragen zu konzentrieren. Vor allem die dritte Frage war schwer: Welche Schwierigkeiten habe ich anderen bereitet? Ich hätte viel lieber darüber lamentiert, was die anderen mir angetan haben.
Und dann sind mir ein paar Kronleuchter aufgegangen. Mir ist plötzlich klargeworden, wie aufbrausend und anmaßend ich immer war. Ich hatte das nie ernst genommen, wenn andere Gefangene mir vorwarfen: "Mann, du bist vielleicht arrogant! " Und jetzt musste ich durch ihre Augen auf mich gucken. Diese verflixte dritte Frage hat mein Denken verändert.
Ja, ich war cholerisch. Wenn mich etwas geärgert hat, fing ich von einer Sekunde auf die andere an, wüst zu schimpfen. Vor fünf Jahren bin ich so ausgerastet, dass ich meine Frau und ihren Liebhaber erschossen habe. Eine Katastrophe. Für jemanden, der ein Leben ohne große Schuld lebt, klingt es sicher völlig unverständlich - aber ich habe erst in dieser Schweigewoche begriffen, was ich getan habe und dass ich dafür verantwortlich bin und niemand sonst.
Ich habe meine Frau getötet
Vorher habe ich mich immer als Opfer gefühlt: Meine Frau hat mich verlassen, ich saß mutterseelenalleine auf dem Scherbenhaufen unserer Ehe, musste unseren Hausstand auflösen. Ich war voller Selbstmitleid. Doch das bringt mich nicht weiter. Ich habe meine Frau getötet und das Leben meiner Tochter zerstört. Sie hasst mich und will nichts mehr mit mir zu tun haben.
Ich kann das nicht wiedergutmachen. Aber ich kann wenigstens zeigen, dass ich das, was ich getan habe, nie wollte. Indem ich Gutes tue. Ich bin viel ruhiger und aufmerksamer geworden. Und auf einmal bitten mich viele Gefangene um Hilfe. Sie zeigen mir zum Beispiel Beschwerdebriefe, die sie geschrieben haben. Dann sage ich oft: Diese Beschwerde hast du im Zorn geschrieben, dein Brief ist beleidigend. Ich erkläre ihnen, wie man respektvoll schreibt. Ich sage: Ihr müsst das diplomatischer angehen, der Ton muss freundlich sein, sonst erreicht ihr gar nichts. Ich weiß, wie zerstörerisch Wut ist.
Bereut habe ich auch schon vorher, aber diese Reue hat zu nichts geführt. Ich hasste mich und wollte mich umbringen. Jetzt habe ich beschlossen, dass ich aus den Jahren, die mir noch bleiben, was machen will. Auch wenn mein Lebensraum hier im Gefängnis winzig ist, ich kann jede Menge tun: anderen zuhören, sie trösten, beraten, meine Kaffee- oder Tabakration mit ihnen teilen. Das ist meine Art, das Unerträgliche erträglich zu machen.
Protokoll: Birgit Schönberger