Wer in Zwiefalten, einem reizenden Städtchen zwischen Oberschwaben und Schwäbischer Alb, die Türe zur evangelischen Kirche sucht, muss hintenherum. Vorbei am Eingang des katholisch-barocken Münsters, quer durch den Park des Psychiatrischen Landeskrankenhauses. Wo sich einst Mönche des ­Benediktinerklosters im Kapitelsaal zum Gebet versammelten, hat seit 1814 die Evangelische Kirche ihr Gotteshaus. Von der Decke grüßen Päpste, Kardinäle und Bischöfe aus Gips. Die Gemeinde hat ihre eigene Note: Zum Gottesdienst mischen sich Bewohner von Zwiefalten mit jenen, die – von Depressionen und anderen psychischen Zwangslagen geplagt – hierher zur Behandlung kommen.

Pfarrer Roland Albeck, Krankenhausseelsorger und Gemeindepfarrer, kommt der vierte Sonntag nach Ostern (Kantate) gelegen, um eine Brücke zwischen beiden Welten zu schlagen: Singen kann befreien, sagt er, singen lenkt von den eigenen Sorgen ab: "Sing ein Lied, wenn du Depressionen hast." – Schon wollen sich erste Falten in die Stirn manches Gottesdienstbesuchers legen, da nimmt der Pfarrer elegant die Kurve: "...das wäre natürlich ein zynischer Rat."

Dennoch könnten Lieder, zumal zum Lob Gottes, eine heilsame Wirkung entfalten: "Weil sie vom Ich, in dem viele gefangen sind, wegführen zu einer anderen Perspektive. Singet dem Herrn ein neues Lied, denn er tut Wunder."
Nebst Predigt tauft Pfarrer Albeck die kleine Eleonore und teilt das Abendmahl aus "an alle, die daran teilnehmen mögen, egal ob sie katholisch, jung oder alt sind". Da lässt sich niemand zweimal bitten. Alle Kirchenbesucher stehen im Halbkreis um den Altar und lassen sich Oblate und Traubensaft reichen.

In einem anderen Fall ist Pfarrer Albeck nicht aufs "Mitmachen" vorbereitet. Umgehend beantwortet eine ältere Frau aus der Kirchenbank seine rhetorische Frage zu Beginn des Taufritus, was es heiße, getauft zu werden. Sie streckt ihre Hand, als säße sie in einer Schulbank: "Das heißt, dass man zu Gott gehört." Pfarrer Albeck ist kurz irritiert, lächelt und nickt freundlich mit dem Kopf.

Nächstenliebe zu psychisch Kranken war hier nicht immer bestimmend. Keine hundert Meter vom Altar entfernt erinnert heute ein kleines Museum an die Zeit, als mit Wissen der Kirchenleitung sehr viele Menschen mit Behinderungen im nahen Grafeneck ermordet wurden. Man tritt hinaus aus dem Kapitelsaal, Vögel zwitschern im Park, von den Zwiebeltürmen des Münsters schlägt es halb zwölf. Jetzt möchte man singen.