Heinrich Bedford-Strohm
Thomas Meyer/Ostkreuz
Zwei Seiten der Freiheit
24/365: Das ist die moderne Formel für Verfügbarkeit rund um die Uhr und an jedem Tag des Jahres. Ein Gewinn für die Menschen?
Thomas Meyer/Ostkreuz
25.10.2015

Der Lebensmittelladen um die Ecke am Broadway in New York war praktisch. Er war immer offen. 24 Stunden, 365 Tage im Jahr. Wann sie einkaufen wollten, mussten die Kunden nie vorher planen. Nicht einmal an Heiligabend und den Weihnachtsfeiertagen war der Laden geschlossen. Ob dann auch Kunden kamen, weiß ich nicht.

So praktisch die Rund-um-die-Uhr-­Öffnung erscheinen mag, mich überkommt ein Schaudern, wenn ich daran ­zurückdenke. Für mich ist sie Symbol einer Gesellschaft, die keine Rhythmen mehr kennt, die grenzenlose Verfügbarkeit zum Programm macht und bei der regelmäßige Pausen und Auszeiten unter Rechtfertigungsdruck stehen.

Die Kritik an der 365-Tage-Gesellschaft sollte nicht vorschnell als konservativer Kulturpessimismus abgetan werden, der die Freiheiten des modernen Menschen gering schätzt. Gegen solchen Kulturpessimismus und für die Freiheit ließe sich ja einiges anführen: zum Beispiel dass niemand gezwungen wird, am Sonntag oder an Weihnachten einzukaufen. Oder dass es eine Bevormundung sei, wenn Gesetze die Freiheit einschränken.

Aber aus zwei Gründen greifen solche Argumente zu kurz: Erstens braucht es Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, die am Feiertag arbeiten müssen, damit der ­Betrieb läuft. Niemand muss sich wundern, dass Ehe und Familie in der ­modernen Gesellschaft so sehr unter Druck stehen, wenn die sozialen Schutzräume immer mehr der Ökonomie weichen müssen. Wer beim Einkaufen am Sonntag seine Freiheit in Anspruch nimmt, muss wissen, dass er dadurch die Freiheit eines anderen einschränkt.

Zweitens ist die Sozialkultur, auf die ­eine Gesellschaft für ihren Zusammenhalt angewiesen ist, mehr als die Summe einzelner freier Entscheidungen. Es macht ­einen Unterschied, ob man sich dafür rechtfertigen muss, dass man am Feiertag für nicht notwendige berufliche Arbeit nicht zur Verfügung steht, oder ob man sich dafür rechtfertigen muss, die Feiertagsruhe zu verletzen.

Nicht der Mensch, sondern die Ruhe ist die Krone der Schöpfung

Eine schleichende Veränderung der Kultur lässt sich nicht oder nur schwer wieder rückgängig machen. Deshalb ist es sinnvoll, die Feiertage zu pflegen, die wir auf der Basis religiöser Traditionen und verfassungsrechtlicher Bestimmungen bewahren konnten.

Es ist bemerkenswert, wie die Schöpfungsgeschichte der Bibel die Erschaffung der Welt in sieben Tagen erzählt. Gott erschafft den Menschen am sechsten Tag. Der siebte Tag ist der Ruhe gewidmet. Nicht der Mensch ist also die Krone der Schöpfung, wie wir immer meinen, sondern der Sabbat, die Ruhe.

Das Gebot, den Sabbat zu heiligen, verknüpft die Verehrung Gottes mit einer sozialen Schutzfunktion, die nicht zuletzt den schwächsten Gliedern im Gesamtgefüge zugutekommt. „Sechs ­Tage sollst du arbeiten und alle deine Werke tun. Aber am siebenten Tag ist der Sabbat des Herrn, deines Gottes. Da sollst du keine Arbeit tun, auch nicht dein Sohn, deine Tochter, dein Knecht, deine Magd, dein Rind, dein Esel, all dein Vieh, auch nicht dein Fremdling, der in deiner Stadt lebt, auf dass dein Knecht und deine Magd ruhen gleichwie du “ (5. Buch Mose ­5,13–14, nach der Lutherbibel von 1984). Welch ­eine soziale und kulturelle Errungenschaft, dass dieses Schutzgebot Eingang in die Sozialkultur unserer Gesellschaft gefunden hat!

Das sollten wir nicht preisgeben. Sondern die Tage genießen, an denen das Produzieren, das Verfügbarsein, das Leistenmüssen eine heilvolle Pause machen.

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