Foto: Sophie Stieger
Fulbert Steffensky, Theologe am Vierwaldstättersee in Luzern fotografiert.Sophie Stieger
05.10.2014
17. Sonntag nach Trinitatis
So ermahne ich euch nun, dass ihr der Berufung würdig lebt, in aller Demut und Sanftmut, in Geduld. Ertragt einer den andern in Liebe und seid darauf bedacht, zu wahren die Einigkeit im Geist durch das Band ­des Friedens: ein Leib und ein Geist, wie ihr auch be­rufen seid zu einer Hoffnung eurer Berufung; ein Herr, ein Glaube, eine Taufe; ein Gott und Vater aller, der da ist über allen und durch alle und in allen.
Epheser 4,1–6

Eine Sache wird angemahnt, wenn etwas im Argen liegt. Angemahnt wird schon in den frühesten Schriften des Neuen Testamentes die Einheit der Gemeinden, so auch im Epheserbrief: „Seid darauf bedacht, zu wahren die Einheit im Geist durch das Band des Friedens!“ Streit gab es von Anfang an. Gerade wenn es um Überzeugungen und Glaubensdinge geht, liegt der Streit nahe und sind die Konflikte nicht leicht zu lösen. Man hat gelegentlich den Eindruck, dass jeder Gesangsverein sich leichter einigen kann als die verschiedenen Gruppen in unseren Kirchen. Wie nun kann man „die Einigkeit im Geist durch das Band des Friedens“ wahren, zu der der Brief an die Epheser mahnt?

Man muss zunächst wissen, dass Einigkeit nicht Einheitlichkeit ist. Es gibt in den verschiedenen Gruppen in unserer Kirche verschiedene Lesarten des Evangeliums. Das ist nicht zu beklagen, es macht vielmehr die Lebendigkeit der Kirche aus. Das Evangelium kommt nicht als Esperanto, in jede Lesart sind unsere Erwartungen, Leiden und Hoffnungen eingegangen. Das macht sie lebendig und unterschiedlich. Einer Kirche, deren Lehre und Verkündigung zwischen Tokio und Lima dieselbe wäre, müsste man eher misstrauen.

Es gibt zwei Befürworter der puren Einheitlichkeit. Das ist einmal das Kontrollinteresse. Einförmigkeit kann man gut überschauen und in Schach halten. Die Angst ist die zweite Befürworterin der Uniformität. Je angstbesessener Menschen sind, umso mehr beharren sie auf einer eindeutigen, greifbaren, unveränderlichen und für ­alle geltenden Form der alten Botschaft. Sie besteht dann nur noch aus nicht zu verändernden Zitaten der Nachricht, nicht mehr aus den lebendigen Leseversuchen der Gemeinden. Zu unserer Freiheit und zu unserer Treue gehört es, weiterzuspinnen am Garn der alten Botschaft. Die Tradition ist das Land unserer Herkunft, und sie ist das Land, das wir verlassen müssen, um darin zu wohnen. „Eine getreue Wiedergabe ist eine echte Fälschung“, sagt der jüdische Aphoristiker Elazar Benyoetz.

Die „Einigkeit im Geist“ gelingt, wenn die verschiedenen Gruppen in der Kirche einander „in aller Demut, Sanftmut und Geduld“ ertragen. Das Leiden aneinander ist nicht zu umgehen. Notwendig ist nur, dass dieses Leiden nicht zur Gewalt gegen­einander und zu Exkommunikationsge­lüsten führt. Man könnte vielmehr die Kunst lernen, bei anderen Entwürfen der alten Nachricht und bei den anderen Gruppen Wahrheit zu vermuten und ihre Entwürfe und Standpunkte zu verstehen.

Wir finden in unseren Kirchen nicht selten eine Art von religiösem Autismus, der auf der eigenen Glaubenskonzeption besteht und nicht fähig ist, den Geist und die Logik anderer Konzeptionen wahrzunehmen. Ich nenne ein wundervolles Gegenbeispiel aus einem nichtreligiösen Raum. Der Dirigent Daniel Barenboim hat ein Orchester aus Israelis und Palästinensern gegründet. In diesem Orchester sind die politischen Spannungen nicht ausgeräumt. Barenboim sagt in einem Interview: „Wir erwarten von jedem (Musiker), dass er neugierig ist, um der Erzählung und Meinung des anderen zuzuhören, und besonders, wenn er nicht einverstanden damit ist. Nicht um unbedingt überzeugt zu werden, sondern nur, um die Logik dieser anderen Erzählung zu hören.“

Wenn wir unfähig sind, die Logik der anderen Erzählung zu hören, hält sich jede Gruppe für allein seligmachend und kommt nicht aus der Verachtung und der Angst vor den anderen heraus. Unser Text rät zu einer wundervollen Tugend, der Großmut (Luther übersetzt „Demut“): die anderen mit ihrer anderen Gestalt des Glaubens für wahrheitsfähig zu halten.

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