Vor hundert Jahren endete der Erste Weltkrieg, vor 80 Jahren begann mit der Pogromnacht die Ermordung von sechs Millionen Juden. An vielen Orten wird dieser Tage an diese Vergangenheit, immer verbunden mit dem Appell, sich hier und jetzt für Demokratie und Toleranz stark zu machen. Das Gedächtnis an Krieg, Vernichtung und Ermordung von Millionen von Menschen ist auch für die evangelische Kirche ein zentrales Anliegen. Für den Ratsvorsitzende der Evangelischen Kirche in Deutschland, den bayerischen Landesbischof Heinrich Bedford-Strohm, ist die "memoria passionis" das Fundament, auf dem Gegenwart und Zukunft stehen. "Eine Gemeinschaft, zu deren zentralem Selbstverständnis die Erinnerung an das Leiden Jesu Christi gehört, kann gar nicht anders, als sensibel für das Leiden der Menschen in Vergangenheit und Gegenwart zu sein", sagte er am Sonntag in seinem Bericht auf der diesjährigen Tagung der EKD-Synode in Würzburg.
Claudia Keller
Die Lehren aus der Geschichte sollen gegen die "dunklen Narrative" der Gegenwart immunisieren, die von Rechtspopulisten, Polarisierern, Hetzern und Hassern verbreitet werden. "Wir werden nie und nimmer zulassen, dass die Erinnerung an den Holocaust verächtlich gemacht wird. Wir lassen nicht zu, dass das Holocaust-Mahnmal als Denkmal der Schande bezeichnet und eine 'erinnerungspolitische Wende um 180 Grad' gefordert wird", sagte Bedford-Strohm - und die 120 Synodalen dankten es ihm mit lang anhaltendem Applaus. Nur ein Gast, der beim Auftakt der Synode in der ersten Reihe saß, klatschte nicht: Volker Münz, der kirchenpolitische Sprecher der AfD-Bundestagsfraktion. Die Synode lädt üblicherweise die kirchenpolitischen Sprecher aller im Bundestag vertretenen Parteien ein. Volker Münz war gleich am ersten Tag dabei.
Bitte um Vergebung
Gut, dass sich der Ratsvorsitzende Bedford-Strohm für die Perspektive der Opfer der Geschichte stark macht. Gut, dass die evangelischen Bischöfe nicht nachlassen im Kampf gegen Rechtspopulisten – obwohl es in den Kirchengemeinden durchaus Sympathien für die AfD gibt.
Doch wenn es in den vergangenen Jahren um die Opfer von Gewalt innerhalb der Kirche ging, äußerten sich die evangelischen Bischöfe zurückhaltend. Seit einer öffentlichen Anhörung in Berlin im Juni diesen Jahres ist das nicht mehr möglich. Da berichteten Frauen und Männer, wie sie von evangelischen Pfarrern sexuell missbraucht wurden, und klagten die Kirchen, vor allem auch die evangelische Kirche, öffentlich wahrnehmbar an. Da wurde deutlich, wie wenig sich Kirchenleitende für die Perspektive der Opfer interessiert haben, selbst nach Bekanntwerden der Missbrauchsfälle am katholichen Canisius-Kolleg in Berlin vor acht Jahren.
Nachholen, was versäumt wurde
Mittlerweile sind rund 479 Fälle sexueller Gewalt im Raum der evangelischen Kirche bekannt geworden. Einige Landeskirchen bemühen sich, die Verbrechen aufzuklären, andere Landeskirchen haben bislang wenig bis nichts getan. In den vergangenen Monaten habe sich gezeigt, wie wenig das Thema auf der Führungsebene angekommen ist, sagt die Hamburger Bischöfin Kirsten Fehrs. Sie bemüht sich seit längerem, die Aufmerksamkeit ihrer Kollegen auf das Thema zu lenken.
Nun soll schnell nachgeholt werden, was jahrelang versäumt wurde: Eine zentrale Anlaufstelle für Betroffene soll eingerichtet werden und ein fünfköpfiger Rat von leitenden Geistlichen, die sich innerhalb der EKD des Themas annehmen – mit Bischöfin Fehrs als Sprecherin. Zwei übergreifende Studien sollen Risikofaktoren analysieren und das Dunkelfeld erhellen.
Bundesfamilienministerin mahnt Aufarbeitung an
Auch Bundesfamilienministerin Franziska Giffey mahnte in einem Grußwort an die Synodalen die Aufarbeitung an: "Es geht darum, Kinder und Jugendliche zu schützen und Konsequenzen für Täter zu ziehen, disziplinarrechtlich und strafrechtlich. Menschen, die Kinder missbrauchen und für ihr Leben schädigen, haben in keinem Amt der Kirche etwas zu suchen."
Der Ratsvorsitzende Bedford-Strohm bat die Betroffenen im Namen des Rats der EKD um Vergebung und beteuerte: "Wir werden alles tun, was möglich ist, um das, was geschehen ist, konsequent aufzuarbeiten und aus den Fehlern zu lernen". Er stellte klar, dass es bei den Übergriffe nicht um irgendwelche Delikte handelt, sonder dass die Verbrechen die Kirche in ihrem Kern treffen. Es könne keinen "tieferen Widerspruch" zur radikalen Liebe Jesu Christi geben.
Auch Synodenpräses Irmgard Schwaetzer sprach deutliche Worte: "Wir bekennen die Schuld, für die wir als Institution Verantwortung übernehmen." Doch warum widmet die Synode diesem so zentralen Thema auf ihrer Tagung dann nur zwei Stunden?
Nur wenn auf die großen Worte Taten folgen, nimmt man den Bischöfen und den Synodalen auch ab, dass sie sich ernsthaft für junge Erwachsenen interessieren. Die Generation der 19- bis 27-Jährigen sind nämlich das eigentliche Schwerpunktthema der diesjährigen Synode. Man will ihnen zuhören, wissen, für was sie sich interessieren, woran sie glauben. Denn für die jungen Erwachsenen gibt es nur wenige Angebote in der Kirche. Sie stehen aber auch nicht Schlange, um in der Kirche mitmachen zu dürfen. Ob man sie für den Glauben begeistern kann, auch davon hängt die Zukunft der Kirche ab.
Zuversicht und Gelassenheit
Heinrich Bedford-Strohm würde nicht an der Spitze der Kirche stehen, würde er nicht versuchen, Hoffnung zu entfachen – auch wenn es bisweilen wie ein Pfeifen im Walde klingt. Dass die Kirche schrumpft, daran werde sich so schnell nichts ändern lassen - "jedenfalls nicht aus menschlicher Kraft", sagte er den Synodalen. Man werde auch nicht für jeden Lebensstil und jede Lebenssituation etwas anbieten können. Und die vielfach beschworene "Authentizität" sei durchaus ambivalent: "Man kann eben authentisch auch sehr viel Unsinn reden".
Doch was dann? Einfach Antworten gibt es nicht. Denn die Verunsicherung, die in Teilen der Gesellschaft wächst, ist auch in den Kirchen zu spüren. Die Türen offen halten, das ist Bedford-Strohms Rat. Sich von Jesus Christus inspirieren lassen. Trotz Verunsicherung gelassen bleiben und trotz rückgängiger Kirchenmitgliedszahlen die Perspektive des "Immer weniger" abschütteln. Mehr ist im Moment wohl nicht zu erwarten. Aber das ist ja auch schon ganz schön viel.
Gerät da was durcheinander ?
Titel: Gegen die Angstmacher Bischof Heinrich Bedford-Strohm wirbt für Zuversicht und Offenheit statt "dunkle Narrative“ (lt. Duden Erzählungen) // Zitat Keller …“sollen gegen die "dunklen Narrative" der Gegenwart immunisieren, die von Rechtspopulisten, Polarisierern, Hetzern und Hassern verbreitet werden“….
Auch in diesem Fall geht es in erster Linie um eine Politik, deren Folgen und Auswüchse mit dem christlichen Glauben leichter zu ertragen sind, und wenn alle das Gleiche glauben und dann auch danach handeln, auch zu besiegen wäre. Auch unsere angstvolle und vernichtende jüngste Vergangenheit ist allein mit dunklen Narrativen und noch so hehren Ermahnungen nicht aus der Welt zu schaffen. An dunklen Erzählungen (Hölle und Verdammnis!) ist unsere christliche Religion ja nicht arm und der andere Teil der Christen noch viel reicher. Aber darum kann es hier doch wohl nicht gehen. Also bleibt nur die gesellschaftliche und politische Zukunft als Thema der Angstmacher und Zuversichtler. Andererseits ist die Angst und ihre Beschwörung der beste Nährboden für alle Angstmacher. Das gilt auch ganz besonders auch für alle "Kanzel-Klimatiker" mit ihren angsterfüllten Weissagungen! Es kann auch für alle Zukünfte keine Angst-Immunisierung geben, denn die Angst ist eine zutiefst menschliche (auch gottgewollte und demnach göttliche?) Eigenschaft. Alles sehr komplex und wohl auch nicht ganz verständlich.
Apropos Nährboden: Die Angst sucht die Depressiven, die von Natur aus Ängstlichen und besonders die Ungebildeten. Und nur bei denen wäre ein Hebel anzusetzen. Obwohl wir nahezu unbegrenzte Bildungsmöglichkeiten haben, ist leider die gesellschaftliche Bildungsentwicklung kontraproduktiv. Rechtschreibung mies, Kleidung jämmerlich, Sprache verroht, der billige Genuß vom Bäcker und seinen Automaten und vom Döner besiegt jede Vernunft, Geld und SUV ersetzen Ethik und Moral und in Prüfungen setzen die Multiple- Choise- Antworten eher auf Vermutung denn auf Wissen. Das ist der Nährboden für die Unverständlichen, die nicht zuhören wollen, für die, deren Bildungsbereitschaft nach dem Bild oder spätestens nach der Überschrift aufhört. Denn für diese Zuhörerschaft ist nur noch die einfache aber mit möglichst lauter Stimme vorgetragene Angst-Meinung und Fake-Behauptung kommunizierbar. Da liegt und wächst das Problem. Wohin das noch führt ist unbekannt. Auch die KI wird uns davon nicht erlösen. Man muß deshalb nicht zum Pessimisten werden, denn die Geschichte lehrt uns, dass es aus größter Not und mit vielen Opfern immer wieder Lösungen gab, die für die Zukunft Fortschritt und Wohltat bedeuteten. Da lob ich mir die Possibilisten, die aus jeder Unabänderlichkeit das Beste machen.
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Durcheinander von Rechtschreibung und Vernunft?
Lieber Herr Ockenga, Sie schließen aus "Rechtschreibung mies" auf "die Unverständlichen, die nicht zuhören wollen". Da wäre ich mal nicht so streng. Ich könnte mir durchaus vorstellen, dass jemand, der fälschlicherweise multiple-choise statt multiple-choice und exellent statt exzellent schreibt, dennoch an ernsthafter Diskussion interessiert ist.
Auch über jemanden, der fälschlicherweise von den "Unverständlichen" spricht, wo er die "Unverständigen" meint, würde ich nicht gleich den Stab brechen.
Fritz Kurz
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Multiple Antwort.
Sehr geehrter Herr Kurz !
Keine Frage wer in "Rechtschreibung mies" ist (z. B. Immigranten mit Bildung), kann dennoch zu einer ernsthaften Diskussion fähig und bereit sein. Mir geht es bei der Wirkung der Aufzählung um die Ursachen, die zu der Bildung beitragen, die nötig ist, um die komplexen politischen Bilder zu verstehen. Und wo ist der Unterschied zwischen "multiple-choise statt multiple-choice"? Bei "exellent statt exzellent" ist die Ermahnung i. O.. Die "Unverständlichen" sind m. W. die, die zwar etwas sagen oder schreiben, aber nicht verständlich sind (häufig auch die "Kanzel" und die in Rätseln reden?). Die "Unverständigen" sind m. W. die, die sich schon mangels Bildung bzw. Wissen erst gar nicht bemühen können, etwas zu verstehen oder alles nur nach ihrem Vorurteil bewerten. Bin ich jetzt auch unverständlich? Auch wenn das alles etwas überheblich klingen könnte, die Wirklichkeit ist nun mal brutal. Und unverständlich oder unverständig führt letztlich zum gleichen Ergebnis.
Langer Rede kurzer Sinn: Das Fundament der Gesellschaft ist die Bildung, die uns befähigt, etwas (auch kritisch) zu verstehen und darüber per Wahl zu entscheiden. Wenn dieses Fundament bröckelt, kommt etwas Neues, etwas vollkommen Unbekanntes, etwas für viele Überraschendes, was vorher Niemand haben wollte.
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Einfache Antwort
Keine Sorge, lieber Herr Ockenga, ich habe weder bei Ihnen noch sonstigen Forumsteilnehmern vor, Ermahnungen oder Zensuren bezüglich der Wortwahl oder der Rechtschreibung zu erteilen. Ihr engagierter Schreibstil ist ein Anreiz, Ihre Beiträge zu lesen, sowohl an den Stellen, wo ich mit Ihnen übereinstimme, wie auch dort, wo Widerspruch fällig ist.
Fritz Kurz
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