Sächsische Zeitung
Dominique Bielmeier
Der Tag danach
02.09.2019

Liebe Anne,

ich sitze an meinem Schreibtisch und mir brummt der Schädel von letzter Nacht. Nein, ich habe nicht zu viel getrunken, das Brummen kommt vom stundenlangen Blick auf bunte Säulendiagramme und lange Listen mit Prozentzahlen. Zusammen mit ein paar Kollegen habe ich fast bis ein Uhr morgens live über die Landtagswahlen in Sachsen berichtet.

Das Ergebnis dürfte ja bereits bis zu euch in Frankfurt vorgedrungen sein: Die CDU bleibt mit 32,1 Prozent stärkste Kraft, die AfD folgt mit 27,5 Prozent, Die Linke – einst zweitstärkste Kraft – erreicht dieses Mal bloß 10,4 Prozent, Grüne 8,6 und die SPD nur noch 7,7 Prozent. Nicht ganz so schlimm, wie ich prophezeit hatte, was das Ergebnis der AfD angeht. Aber dass über 600.000 Menschen in Sachsen die Rechtspopulisten gewählt haben, schockiert mich trotzdem.

Vor allem, da sie es laut einer Befragung zu 70 Prozent tatsächlich aus Überzeugung getan haben. Weil sie die politischen Forderungen gut finden. Anders als in Brandenburg übrigens, wo gut die Hälfte der knapp 300.000 AfD-Wähler den anderen Parteien "nur" einen Denkzettel verpassen wollte. Ist das nicht ein wenig die Logik von kleinen Kindern, die aus Wut über ihre Eltern von zu Hause weglaufen und dann feststellen, dass sie sich plötzlich ganz allein an einem fremden Ort befinden?

37 Sitze werden die Rechtspopulisten in unserem Landtag nun einnehmen, mehr als SPD, Grüne und Linke zusammen. Übrigens dank kräftiger Unterstützung aus Meißen: Fast im gesamten Landkreis wurde die AfD stärkste Kraft. Wie auch in großen Teilen der Sächsischen Schweiz, in Bautzen und Görlitz. Immerhin sieht es so aus, als würde die CDU ihr Versprechen einhalten, nicht mit den Rechtspopulisten zu koalieren.

Trotzdem: Die Stärke der AfD wird unser Land verändern. Die Debatte wird sich noch weiter nach rechts verschieben, ganz schleichend, gerade weil die AfD ja „nur“ Opposition ist. Fünf Jahre haben die Menschen Zeit, sich daran zu gewöhnen, dann machen vielleicht noch mehr von ihnen ihr Kreuz bei der vermeintlichen Alternative. Vielleicht war das keine schlechte Idee von deiner Mirijam, Dresden zu verlassen. Die Sprüche wegen ihrer Hautfarbe würden hier sicher nicht weniger werden.

Jetzt habe ich ziemlich schwarz gemalt, oder eher blau, denn man kann es ja auch so sehen: Über 70 Prozent der Wähler haben ihr Kreuz eben nicht bei der AfD gemacht – und das bei einer ungewohnt hohen Wahlbeteiligung von 66,6 Prozent. In Dresden haben sogar über 72 Prozent der Wahlberechtigten ihre Stimme abgegeben. Das heißt auch, mehr Menschen sind zur Wahl gegangen, um einen Sieg der Rechtspopulisten zu verhindern; die AfD konnte zwar sehr viele Nichtwähler mobilisieren, aber nicht immer zu ihren Gunsten.

Bevor ich dir heute nur von der Wahl schreibe, will ich dir noch etwas anderes erzählen, eine schöne Geschichte aus dem Osten: Am Freitag habe ich die Hochzeit meiner besten Freundin im Spreewald gefeiert. Das Paar wurde unter einem wunderschönen Dom aus ineinander verflochtenen Weiden getraut, bei den Eheversprechen flossen reichlich Tränen – bei Brautpaar wie Gästen – und zum Kaffee gab es neben Torte auch die spreewaldtypischen Pellkartoffeln mit Quark und Leinöl.

Den Samstag verbrachten mein Freund und ich dann zu großen Teilen auf der Spree: beim Paddeln in einem Zweierkajak. Falls du das noch nie getan hast, bekommst du hiermit meine absolute Empfehlung. Auf dem Wasser ist es wunderschön, wie das Licht durch die Bäume fällt und der Fluss manchmal sogar regenbogenfarbig schimmert. Die Leute auf den hölzernen Spreewaldkähnen, die vorbeifahren, grüßen bierselig, und in einer kleinen Bucht am Ufer liegt ein verlassenes braunes Boot, das so offensichtlich einem Neonazi gehören muss, dass wir trotz allem, trotz der bevorstehenden Wahl, trotz Rechtsruck, anfangen laut zu lachen, mein Freund und ich: Das Boot heißt „Eva 88“.      

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Kolumne

Dominique Bielmeier
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Dorothea Heintze
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Anne Buhrfeind

Zwei Redaktionen, ein Blog: Dominique Bielmeier arbeitet bei der Sächsischen Zeitung in Dresden. Anne Buhrfeind und Dorothea Heintze bei chrismon in Frankfurt. Nun bloggen sie: Über ihren Redaktions-Austausch, ihr Leben als Ossi im Westen, ihr Leben als Wessi im Osten. Und ihren Alltag, hier wie dort.