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Seit unserer Kindheit sind wir mit den Geschichten über den Sang-e-Sabor (geduldiger Stein) aufgewachsen. Die Großeltern versammelten die Kinder um sich und erzählten über den Sang-e-Sabor, einen kostbaren und legendären Stein, der nicht leicht zu finden sei. Wenn der Kummer und die Qualen so groß werden, dass man sie nicht mehr ertragen kann, sucht man nach dem "geduldigen Stein". Dabei durchquert man viele Dörfer und riesige Berge.
Wenn man ihn endlich gefunden hat, erzählt man ihm in einer Vollmondnacht all seinen Kummer. Dann fragt man den Stein: „Oh geduldiger Stein, oh geduldiger Stein, sag mir, bist du stärker oder bin ich es? Wenn ich stärker bin, dann sollst du zerbrechen!“
Der Stein, der die menschlichen Schmerzen und Leiden nicht mehr ertragen kann, wird zerbrechen und all der Kummer wird mit ihm verschwinden. „Der geduldige Stein“ ist nur ein Mythos, aber wir alle brauchen einen geduldigen Stein in unserem Leben - zwei hörende Ohren, um die Last unserer Sorgen zu erleichtern. Manchmal ist es schwierig, einen geduldigen Stein zu finden. Keine Freundschaft, kein Partner, keine Kinder. Es gibt niemanden außer dir und dir selbst.
Der alte Mann, der jetzt sein geduldiger Stein ist
So erging es auch Partaw Naderi, einem der widerständigen afghanischen Dichter, in seinem neuen Buch "Ich und der alte Mann". Trotz der aktuellen Situation hat er beschlossen zu bleiben. Sein Sohn hat ihn verlassen und er lebt allein in dem Haus, das er sich in den Jahren der Einsamkeit gebaut hat. Die Traurigkeit ist stets ein Teil von ihm. In der Einsamkeit, während er trauert, begegnet er dem alten Mann in ihm. Einem alten Mann, der jetzt sein geduldiger Stein ist. Partaw Naderi beschreibt seine Beziehung zu ihm: "Meine Bekanntschaft mit dem alten Mann hat eine lange Geschichte. Ich weiß nicht mehr genau wann sie begann, aber in den letzten Jahren dachte ich manchmal, dass der alte Mann die andere Seite der Medaille meiner Existenz ist - vielleicht die ganze Medaille meiner Existenz. Wenn ich vor ihm sitze ist es, als würde sich alles in meinen Gedanken spiegeln. Im Spiegel seiner Erzählungen sehe ich Dinge, die ich vorher nicht gesehen habe."
Mut, den nicht jeder unter dem dunklen Schatten der Autokratie hat.
Manchmal mit Humor, manchmal mit Sarkasmus, teilt er mit dem alten Mann und seinen Lesern seinen Schmerz und seine Klage über die aktuelle Situation des Landes - Mut, den nicht jeder unter dem dunklen Schatten der Autokratie hat.
Im Jahr 2013 waren wir Kollegen in einer zivilgesellschaftlichen Organisation. Er war groß und sein weißes Haar reichte ihm bis zu den Schultern. Sobald er den Raum betrat, zauberte er mit seiner Poesie und seinem Humor ein Lächeln und ein Lachen auf die Gesichter der Anwesenden. Als ich sein Foto bei der Eröffnung einer Bibliothek in Kabul sah, nahm ich sofort Kontakt zu ihm auf. Das De-facto-Regime beschränkt nicht nur die Rechte der Frauen, sondern auch Kultur-, Literatur- und Meinungsfreiheit. Partaw Naderi, dessen politische Botschaften in seinen Gedichten versteckt waren, hat trotzdem keine Angst und schreibt einfach weiter. Als ich ihn fragte, was er zur Zeit mache, begann er über seine Bücher zu sprechen.
Jetzt ist er "arbeitslos" und kann seine Gedichte fertig schreiben
Mehrere seiner Bücher sind seit letztem Jahr erschienen, und er sprach aufgeregt über seine anderen, dann hielt er inne und sagte: "Oh, Sie müssen sich fragen, wie ich so viele Bücher in so kurzer Zeit veröffentlichen konnte. Das waren alle meine Schriften aus den vergangenen Jahren, die ich nicht zu Ende bringen konnte, und jetzt, wo ich arbeitslos bin und den ganzen Tag zu Hause sitze, habe ich alle Zeit der Welt für unerledigte Dinge." Und er lachte bitterlich.
Ich fragte ihn nach seinem Leben in diesen Tagen und er verglich die Situation mit dem griechischen Mythos von Damokles. Ein Mann, der unter einem Schwert sitzt, das mit einem Pferdehaar zusammengebunden ist. Das Haar könnte jeden Moment reißen und das Schwert würde ihm den Kopf abschlagen. Selbst wenn das nicht passiert, würde er langsam an der Angst und der Furcht sterben. Er sagte, er sei in schlechter Isolation, werde vor dem Haus beschimpft und wisse nicht, wann an seine Tür geklopft werde. Ich fragte ihn, ob er das Land nicht verlassen wolle. "Millionen von Menschen leben in diesem Land und nicht jeder kann es verlassen. Meine Situation ist schlecht, aber was wichtig ist, ist die Situation dieses Landes. Ich hoffe, dass es einen Ausweg gibt, aber leider sehe ich keinen." Als er über die Heimat und die Menschen sprach, erinnerte ich mich an eines seiner Gedichte:
O mein Heimatland, ich berühre deine offenen Wunden
aus der Kehle des Jahrhunderts
Ich erwecke im Geiste des Lebens
den blutenden Schrei von Hunderten von Knospen
Sein Schmerz kommt nicht nur von dem, was das Land gerade durchmacht. Er schreibt seit seiner Jugend und war während des kommunistischen Regimes zwei Jahre lang inhaftiert. Das folgende Gedicht schrieb er im Polcharkhi-Gefängnis in Kabul:
Die Nacht kam mit der Dunkelheit in der Hand
Der helle Kristall der Sonne zerbrach
Die Erde und der Himmel wurden zu einem Meer aus Blut
dass der Geist des Schattens sich mit dem Spiegel verband
Die relative Freiheit, die in den letzten zwei Jahrzehnten herrschte, hat der Literatur einen enormen Aufschwung beschert, vor allem unter der Jugend. Viele Frauen veröffentlichten Gedichtbände, schrieben Blogs, und es fanden viele Versammlungen und regelmäßige Literaturveranstaltungen statt. Junge Menschen zeigten großes Interesse an Poesie und Literatur und verfolgten ihre Karrieren in diese Richtung. Es fällt all jenen, die wie Partaw Naderi ihr Leben für die Entwicklung des Landes eingesetzt haben, schwer von Hoffnung zu sprechen, während das Land Tag für Tag ertrinkt. Aber was kann das Land vor dem Damoklesschwert retten? Seine Gedichte sind nicht alle Ausdruck der Dunkelheit- einige geben auch einen Hoffnungsschimmer:
Wenn ich durch die sieben Länder meiner Hilflosigkeit gehe
Eines Tages
An dem Tag, der naht,
Werde ich zu einem Fluss der Liebe
erwachend und lächelnd
und ich werde fließen
in alle Waffenfabriken der Welt
Wenn ich durch die sieben Länder meiner Hilflosigkeit gehe
werde ich einen Baum pflanzen
dass kein Zweig von ihm
ein Stiel für eine Axt sein wird
Ich, eines Tages
An dem Tag, der naht
Gehe durch die sieben Länder meiner Hilflosigkeit
Gedichte von Partaw Naderi