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Als ich heute im nahegelegenen Park spazieren ging, um etwas Sonne zu tanken, konnte ich plötzlich persische Musik in der Ferne vernehmen. Ich folgte den Klängen und traf schließlich auf einige afghanische, iranische und kurdische Familien, die im Park feierten. Eine Gruppe junger Afghanen tanzten, andere klatschten zur Musik. Direkt neben ihnen waren zwei Männer mit der Zubereitung von Kebab beschäftigt. Ich gesellte mich klatschend zu der kleinen Menschenmenge, die inzwischen ein Mädchen bei ihrem Tanz anfeuerte.
Etwas abseits standen zwei deutsche Frauen, die verwundert das bunte Treiben beobachten. „Was ist denn da los? Feiern die einen Geburtstag?“ fragten sie sich. Enthusiastisch erklärte ich ihnen, dass diese Leute Nawruz feierten, unser Neujahrs- und Frühlingsfest. Sie nickten mir skeptisch zu und gingen weiter ihres Weges.
Ich genoss meinen kleinen Spaziergang und konnte sehen, wie die Natur langsam aus ihrem Winterschlaf erwacht. Bäume, Büsche und Blumen beginnen zu blühen. Der Frühlingsduft und die Stimmung im Park erinnerten mich an meine Kindheit, als wir uns voller Vorfreude auf den Jahreswechsel vorbereiteten. Alles musste geputzt und gereinigt werden. Beschädigte Gegenstände wurden entsorgt und die Teppiche an der frischen Luft ausgeklopft.
Aufgeregt streifte ich mit meinen Brüdern durch die Stadt, um zu sehen, wer als Erstes alle sieben Hauptbestandteile für den traditionellen Haft-Sin- („sieben S“) Tisch finden würde: Sabzeh (سبزه „Gras“, symbolisiert Munterkeit), Samanak (سمنک „Getreidekeimlinge“, symbolisiert Wohltat und Segen), Sir (سیر „Knoblauch“, symbolisiert Schutz), Senjed (سنجد „Mehlbeere“, symbolisiert Saat des Lebens), Serkeh (سرکه „Essig“, symbolisiert Fröhlichkeit), Somagh (سماق „Gewürzsumach“, symbolisiert Geschmack des Lebens) und Sib (سیب „Apfel“, symbolisiert Gesundheit). Außerdem bereitete meine Mutter einige Tage vorher noch Haft-Meva zu, ein traditionelles afghanisches Neujahrsgetränk, das aus getrockneten Früchten und Nüssen zubereitet wird.
Frisch gebadet und mit sauberer neuer Kleidung machten wir uns an die Anrichtung des Tisches. Meistens fügten wir noch weitere Elemente hinzu, wie etwa Münzen und bemalte Eier, welche Reichtum und Fruchtbarkeit symbolisieren. Dann saßen wir beisammen und warteten gespannt auf den Jahreswechsel. Wenn es so weit war, fielen wir uns in die Arme und wünschten uns alles Gute. Anschließend las unser Vater noch aus Hafez’ Gedichte-Buch vor. Am ersten Tag des neuen Jahres besuchten wir unsere Großeltern und küssten ihre Hände, als Zeichen des Respekts. Von ihnen bekamen wir kleine Geldgeschenke („Eidi“). Danach machten wir noch ein Picknick, bei dem fröhlich musiziert und getanzt wurde, um die Schönheit der Natur zu zelebrieren. Viele Afghanen besuchen zu den Festtagen die Stadt Masar-e Sharif und das dort befindliche riesige Feld mit roten Tulpen sowie den Schrein von Hazrat Ali, die berühmte „Blaue Moschee“, welche Austragungsort des großen Neujahresfestes bis spät in die Nacht hinein ist.
Von diesen Feierlichkeiten ist in Afghanistan dieses Jahr keine Spur. Die Taliban akzeptieren Nawruz nicht als Teil ihrer Religion und deklarierten das Fest kürzlich sogar als Blasphemie. Den Feiertag am ersten Tag des neuen Jahres schafften sie ab, sodass alle zur Arbeit gehen müssen, anstatt ihre Verwandten besuchen zu können. Schon vor ihrer Machtübernahme verkündeten die Taliban mit Terroranschlägen zum Neujahresfest ihre Verachtung für diese Tradition.
Nawruz ist verboten
Einige Mütter warten immer noch vergeblich auf die Rückkehr ihrer Kinder, die von den Taliban entführt wurden. Anderen, deren Kinder vor ihren Augen getötet wurden, bleibt nur noch die Trauer. Anstatt neue Kleidung für ihre Familien zu kaufen, drängen sich Väter auf den Straßen, um ein Stückchen Brot zu ergattern. Manche verkaufen voller Verzweiflung sogar eine ihrer Nieren, um die Angehörigen zu retten. Anstelle von Musik hört man auf den Straßen das Gerufe von Eltern, die eines ihrer Kinder verkaufen müssen, damit die restlichen Kinder der Familie überleben können. Der Duft des Frühlings wird von einem Gestank der Hoffnungslosigkeit überzogen.
Dieses Jahr ist der Haft-Sin-Tisch nicht gedeckt. Auch kein Musizieren oder Tanzen in den Parks. Stattdessen sieht man dort Geflüchtete, die in die Obdachlosigkeit gezwungen wurden. In ihren Gesichtern ist kein Lächeln mehr zu erkennen. In diesen dunklen Zeiten wünsche ich mir für das neue Jahr, dass in Afghanistan Ruhe und Frieden einkehren und schon bald wieder Musik und das Lachen der Kinder aus allen Häusern erklingen.