Es war Frühherbst, als wir zum ersten Mal nach Kabul kamen. Es war ziemlich kühl, und der Wind ließ die gelben Blätter herumtanzen. Die Nachbarn waren alle freundlich und begrüßten uns einer nach dem anderen mit afghanischem Essen.
Das Mädchen aus dem oberen Stockwerk namens Fatima kam mit ihrer Mutter in unsere Wohnung. Es war das erste Mal, dass ich ein paschtunisches Mädchen traf. Sie hatte große Augen und war kräftig gebaut. Wir wurden bald Freundinnen und besuchten uns fast jeden Tag. Alle Frauen der Familie trugen lange, traditionelle Kleidung und ein großes Kopftuch. Damals habe ich dort niemals Männer angetroffen.
Ihre beiden Schwägerinnen waren ausgesprochen schöne junge Frauen, die aber sogar vor uns die Hälfte ihres Gesichts verbargen. Eines Tages sagte meine Mutter zu einer von den beiden: „Meine Tochter, wir sind Frauen, versteck dein Gesicht nicht vor uns. Wir fühlen uns erdrückt, wenn du es so verhüllst.“ Das Mädchen stellte das Teetablett vor uns ab, senkte schüchtern ihren Schleier über ihr Gesicht und lachte: Nicht einmal ihr Mann hatte das Gesicht seiner Frau bisher richtig gesehen.
Ihr Mann lebte zwar in Deutschland, aber die Eltern hatten ihm eine Frau aus ihrem Dorf ausgesucht. Wenn er zu Besuch kam, konnte er seine Frau tagsüber nicht sehen und auch nicht mit ihr sprechen. Nachts wartet sie im Bett und in der Dunkelheit hatten sie die Möglichkeit, sich näherzukommen.
Ich war entsetzt: So etwas hatte ich mir bisher nur in Filmen vorstellen können, aber nicht in der Realität.
Fatimas größte Angst wurde Realität
Meine damalige Freundin Fatima hatte einen Sinn für Humor und machte sich manchmal über paschtunische Traditionen lustig. Sie war das jüngste Kind in der Familie und alle liebten sie sehr. Sie hatte sogar die Freiheit, zu studieren und auszugehen. Aber der Zukunft, die man für sie vorgesehen hatte, konnte sie nicht entkommen. Die Familie hatte einen Ehemann für sie ausgesucht und Fatima wusste, dass ihr Leben nach der Heirat ein Gefängnis werden würde, so wie das ihrer beiden Schwägerinnen. Einige Jahre später wollten wir sie besuchen. Ich klopfte eifrig an. Die Frau ihres Bruders öffnete die Tür. „Hallo, ist Fatima zu Hause?“ Darauf sagte sie nur: „Fatima hat geheiratet und lebt jetzt in einer anderen Provinz.“ Ihr größter Albtraum, aus Kabul wegzuziehen und alle Ihre Freiheiten zu verlieren, ist wahr geworden. Ich habe nie wieder etwas von ihr gehört.
Wo liegt die Wurzel der Frauenfeindlichkeit der Taliban?
Ich habe mir immer vorgestellt, dass das Leben in einer traditionellen paschtunischen Familie in der Provinz wie ein dunkles Gefängnis ist. Das dunkle Gefängnis, das jetzt zur Realität aller afghanischen Frauen geworden ist. Natürlich sind nicht alle paschtunischen Stämme so konservativ und frauenfeindlich. Paschtunen, die lange an der Spitze der Macht standen, hatten immer mehr Möglichkeiten für Bildung und Arbeit als andere ethnische Gruppen. Viele paschtunische Frauen arbeiteten in verschiedensten Bereichen. Diejenigen, die in der früheren Regierung in hohen Positionen arbeiteten, wollten die wirkliche Stimme der Frauen und ihre Herausforderungen nicht zum Ausdruck bringen. Stattdessen zogen sie es vor, die Stimme der mächtigen paschtunischen Männer zu sein. Vielleicht lag es auch an ihrer paschtunischen Tradition, Tradition und Familie zu respektieren.
Es gab viele Diskussionen darüber, warum das Recht der Frauen auf Arbeit und Bildung verboten wurde. Selbst streng islamische Länder haben Frauen und Mädchen dieses Recht nicht genommen. Die Wurzel der Frauenfeindlichkeit der Taliban ist für viele immer noch nicht klar. Viele betrachten den Talibanismus als gleichwertig mit dem Paschtunismus, vor allem dessen alten Stammeskultur mit ihren Regeln. Eine dieser vielen Traditionen ist, dass Frauen zu Hause bleiben müssen.
Die Taliban-Führer haben in den Schulen der Deobandi und Haqqani studiert, in denen jeder Akt der Kontemplation verboten ist. Sie akzeptieren alle Überlieferungen und Hadithe des Propheten, ohne sie jemals zu hinterfragen oder zu analysieren. Jetzt zwingen sie diese Ideologie einem Land mit einer großen Vielzahl an Ethnien, Sprachen und Kulturen auf.
Inzwischen haben die Taliban die freundliche Maske von ihren Gesichtern genommen und haben keine Angst mehr vor verschiedenen einheimischen Oppositionsgruppen oder westlichen Ungläubigen. Aber das historische Gedächtnis ist sehr schwach. Die Geschichte dieses Landes hat wiederholt gezeigt, dass das Einsperren der Hälfte der Gesellschaft im eigenen Land und die Konzentration auf Religion statt auf Bildung zu nichts anderem führt als zu Elend, Armut, Gewalt und Rückständigkeit.