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Es gibt eine eigene Lust am Niedergang. Kurz vor Weihnachten war es wieder zu erleben: Alle bereiten sich auf das Christfest vor, aber die Zeitungen sind voll von Berichten über den Niedergang des Christentums in Deutschland. Meinungsumfragen wurden veröffentlicht, die den Traditionsabbruch säuberlich in Statistiken darstellen: Gottesdienstbesuch, Tischgebet, Glaube an die Trinität usw. – lauter sinkende Linien. So unbezweifelbar richtig das alles auch ist, frage ich mich, ob damit der Kern der Sache getroffen ist. Sind Ritualfrequenz und orthodoxe Doktrin tatsächlich das Wesentliche am Glauben? Oder wird hier nicht eine theologisch und kirchlich definierte Christlichkeit als Norm aufgestellt, an der selbst die meisten Kirchenmitglieder (und Pastoren) scheitern müssen? Dann wäre der Niedergang des Christentums nicht zuletzt der eigenen Definition geschuldet.
Vor drei Wochen bekam ich ein schönes Geschenk. Im vergangenen Frühjahr war mein lieber, alter Patenonkel verstorben. Nun besuchte ich kurz vor Weihnachten seine Frau. Beim Aufräumen seiner Papiere hatte sie seinen „Patenschein“ gefunden. Den gab sie mir nun. Ich war gerührt, denn dieses Stück Papier ist ein feines Symbol einer lebenslangen Freundschaft. Als ich dann aber las, was darauf geschrieben steht, musste ich schmunzeln. Ordentlich sind die wesentlichen Daten markiert: 5. Dezember 1964, Kirchengemeinde Hamburg-Nienstedten, ein ziemlich abstruser Taufspruch. Und dann wird auf der gegenüberliegenden Seite dem Empfänger des Patenscheins amtlich mitgeteilt, was für seine Aufgaben sind. Es beginnt so: „Das Patenamt, das Sie zu übernehmen bereit sind, ist ein wichtiges Amt. Es hat in unserer Zeit, in der unsere Kinder nicht mehr von einer christlichen Umwelt getragen werden, an Bedeutung gewonnen.“ 1964 – Hamburger Vorort – keine christlich geprägte Umwelt mehr? Ich dachte immer, damals sei die kirchliche Welt noch in Ordnung gewesen. Aber vielleicht brauchen wir – als Kirchenleute, aber auch sonst als Menschen – das Bewusstsein, dass alles den Bach hinuntergeht. Schließlich sorgt auch der Pessimismus für Klarheit, Gewissheit und Orientierung. Wie viel anstrengender ist es doch, sich auf Ambivalenzen einzustellen.
P.S.: Das Foto wurde im Sommer in Lissabon aufgenommen – eine tiefschwarze künstlerische Intervention unter hellstem Sonnenschein.