Foto: privat
Die neue Neulandhalle
(Berlin) 11.02.16; Dr. Johann Hinrich Claussen, Portraet, Portrait; Kulturbeauftragter des Rates der EKD, Leiter des EKD-Kulturbueros, evangelischer Theologe Foto: Andreas Schoelzel/EKD-Kultur. Nutzung durch und fuer EKD honorarfreiAndreas Schoelzel
09.05.2019

Es sollte ein Propaganda-Coup für die NS-Diktatur werden: die Gewinnung von Neuland in Dithmarschen, an der Westküste Schleswig-Holsteins. Deshalb musste das der Nordsee abgetrotzte Land „Adolf-Hitler-Koog“ heißen. Zur Krönung bekam es eine nationalsozialistische Weihstätte: die „Neulandhalle“. Sie war nicht bloß ein Versammlungsraum für die Koog-Bewohner, sondern eine regelrechte Anti-Kirche. Nirgendwo sonst wurden die ideologischen Parolen von „Volksgemeinschaft“ und „Lebensraum“ mit ihrer Verführungskraft und ihren gewalttätigen Konsequenzen so sinnfällig.

Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde ein Ausflugslokal daraus, in den 70er Jahren dann eine kirchliche Jugendherberge. Danach stand sie leer und wurde fast abgerissen. Doch zum Glück konnte sie behutsam renoviert, vor allem aber erforscht und nun mit einer eindrucksvollen Ausstellung versehen werden. Inhaltlich und gestalterisch sehr gelungen, dazu ziemlich mutig ist sie - nicht im Inneren versteckt, sondern im Außenbereich zu sehen. Auf großen Metall-Buchstaben, die die entscheidenden Schlagwörter wie „Volk“ oder „Leben“ abbilden, ist alles über die Geschichte der Neulandhalle zu lesen.

Dies ist kein Ort des Terrors, an dem man der Opfer der Gewalt gedenkt. Dafür gibt es ein dichtes Netz von Gedenkstätten. Diese bilden eine unverzichtbare Säule deutscher Geschichtskultur. Hier der Opfer zu gedenken, ist unendlich wichtig, ein schlichtes Gebot der Menschlichkeit, der historischen Gerechtigkeit, aber auch des christlichen Glaubens, der auf dem gewaltsamen Tod eines Unschuldigen gründet. Daneben aber braucht es Erinnerungsorte wie die neue Neulandhalle. Denn beim Gedenken gibt es eine deutsche Versuchung: Wer ohne einen Sinn für Distanz und das eigene Herkommen der Opfer gedenkt, könnte in die Gefahr geraten, aus einem ehrlichen Gefühl der Empathie innerlich auf die Seite der Opfer zu wechseln und die Rollen zu vertauschen.

Seit einigen Monaten erforsche ich die Geschichte meiner Familie, die ihre Wurzeln auch in Dithmarschen hat. Dies ist keine Geschichte der Opfer (mit einer Ausnahme), sondern von Tätern, gehorsamen Helfern, Begeisterten, Mitläufern, Nutznießern, unschlüssig am Rande Stehenden, Wegschauern, aber eben nicht von Opfern. Ein entfernter Verwandter von mir war sogar ein Kriegsverbrecher und stand genau damit in enger Verbindung zur Neulandhalle. Deren Erbauer war der langjährige Gauleiter Schleswig-Holsteins. Im Krieg wurde dieser der oberste Verwaltungschef des „Reichskommissariats Ostland“. Eine Hierarchiestufe unter ihm hat der entfernte Vorfahre von mir in Estland unfassbare Verbrechen gegen die Menschlichkeit begangen. Wenn ich also meine eigene Familiengeschichte verstehen will, ist die Neulandhalle in Friedrichskoog der passende Lernort für mich. Dies dürfte nicht nur für mich allein gelten.

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Kolumne

Johann Hinrich Claussen

Auch das Überflüssige ist lebens­notwendig: Der Autor und Theologe Johann Hinrich Claussen reist durch die Weiten von Kunst und Kultur