Aus der Ausstellung "Ost-Berlin"
Ostberlin als Lebenswelt
(Berlin) 11.02.16; Dr. Johann Hinrich Claussen, Portraet, Portrait; Kulturbeauftragter des Rates der EKD, Leiter des EKD-Kulturbueros, evangelischer Theologe Foto: Andreas Schoelzel/EKD-Kultur. Nutzung durch und fuer EKD honorarfreiAndreas Schoelzel
03.09.2019

Über das Unverständnis zwischen Ost- und Westdeutschland wird ja gerade viel und laut geklagt. Da empfehle ich leise, aber nachdrücklich den Besuch der „Ost-Berlin“-Ausstellung des Berliner Stadtmuseums im Ephraim-Palais. Sie zeigt eine halbe Stadt jenseits der Klischees. Dort haben ja Menschen gelebt. Aber wie? Mir hat diese sorgfältige und originelle Schau neue Einsichten geschenkt: über das Wohnen, Arbeiten, die Erholung, Mode und Kultur, die Politik – damals dort. Sie ist noch bis zum 9. November zu sehen.

Wer es bis dahin nicht in die Hauptstadt schafft oder den Museumsbesuch noch vertiefen will, dem empfehle ich das Buch zur Ausstellung. Es ist kein „Katalog“ der üblichen Sorte, sondern eine Sammlung von 30 Aufsätzen, in denen sehr unterschiedliche Autorinnen und Autoren ihre persönlichen Ostberlin-Erinnerungen vorstellen. Man kommt aus dem Sichwundern nicht heraus.

Nur ein Beispiel: Der Historiker Stefan Wolle erzählt von der Intellektuellen-Szene im Café „Espresso“ im Lindencorso an der Friedrichstraße. Widerständig war man, aber mit der kirchlichen Opposition wollte man nichts zu tun haben. Als Wolle an einem Sommertag 1989 vorschlug, in die Gethsemanekirche zu einer Informationsandacht über die Wahlfälschung zu gehen, winkten alle müde ab. So machte er sich allein auf den Weg und erlebte dies:

„Im Hinterzimmer der Gethsemanekirche, der sogenannten Winterkirche, hatte sich im funzeligen Licht ein kleines Häuflein Menschenrechtler versammelt. Ein Pastor hielt eine sehr allgemeine und abwiegelnde Rede. Tatsächlich forderte dann ein junger Mann einen Protestbrief der Kirche an den Vorsitzenden der Wahlkommission, in dem gegen die Wahlfälschung Stellung genommen werden sollte. Generalsuperintendent K. hörte sich das schweigend an und machte sich Notizen. Dann meldete sich wie auf Bestellung eine ältere Damen vom Gemeindekirchenrat und sagten, die jungen Leute regte sich immer über die Politik auf, stattdessen sollten sie mal auf dem Friedhof die Blätter harken… Damit war die Veranstaltung beengt… Ich war tatsächlich in einer fremden Welt. Hier aber, in dem muffig riechenden Hinterzimmer der Kirche, so banal die Veranstaltung auch gewesen sein mag, war die Notwendigkeit zur Wirklichkeit geworden, wie es Hegel vielleicht gesagt hätte. Die eher schüchternen jungen Leute, die es wagten, ein Protestschreiben an die Obrigkeit zu fordern, waren die neuen Geschäftsführer, des Weltgeistes geworden.“

P.S.: Das Foto oben dokumentiert einen besonders peinlichen Schmerz der DDR-Führung. Da hatten sie so einen tollen Fernsehturm gebaut, doch wenn die Sonne darauf schien, spiegelte sich auf ihm weithin sichtbar ein Kreuz aus Licht. Und das ist immer noch so.

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Kolumne

Johann Hinrich Claussen

Auch das Überflüssige ist lebens­notwendig: Der Autor und Theologe Johann Hinrich Claussen reist durch die Weiten von Kunst und Kultur