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Eine neue Epoche – für die Kirche
Nichts sei mehr wie zuvor, hört man jetzt überall. Das ist vielleicht übertrieben, aber mir fallen spontan drei Themen ein, bei denen die evangelische Kirche neu und ernsthaft nachdenken muss.
(Berlin) 11.02.16; Dr. Johann Hinrich Claussen, Portraet, Portrait; Kulturbeauftragter des Rates der EKD, Leiter des EKD-Kulturbueros, evangelischer Theologe Foto: Andreas Schoelzel/EKD-Kultur. Nutzung durch und fuer EKD honorarfreiAndreas Schoelzel
04.03.2022

1. Am vergangenen Sonntag war ich auf der großen Friedensdemonstration in Berlin. Das war eine gute Erfahrung. In der „Süddeutschen Zeitung“ hat Gustav Seibt darüber geschrieben und daran erinnert, dass bisher „ein habitueller Pazifismus zur Innenausstattung unserer Republik“ gehört habe „ebenso wie der Widerspruch gegen ihn“. Wenn etwas aus guten Gründen eine tief verwurzelte und in regelmäßigen Handlungen eingeübte Überzeugung ist, sollte man dies nicht leichtfertig wegwerfen, nur weil es gerade keine Konjunktur hat. Andererseits, wenn etwas nur ein mentale Gewohnheit, eine moralische Konvention ist, die in einer neuen Situation einfach nichts aussagt, sollte man neu und grundsätzlich miteinander nachdenken. Auf der Website www.zeitzeichen.net (immer wieder eine gute Plattform für theologische Debatten) hat nun der Koblenzer Militärdekan Roger Mielke ein solches Überlegen eingefordert und angeregt. In seinem sehr lesenswerten Beitrag legt er dar, warum die evangelischen Friedensethik einen „neuen Realismus“ einüben muss, ohne die Botschaft des Evangeliums einfach der militärischen Realpolitik zu opfern. Sorgfältig überprüft er die bisherigen Leitgedanken und die stets heikle Ausbalancierung von pazifistischen und verantwortungsethischen Motiven. Was ihm bisher fehlt, ist eine überzeugende Berücksichtigung der jeweiligen politischen Kontexte. Ich weiß noch nicht, ob ich Mielkes dichter Argumentation in allen Punkten folge. Aber sein Plädoyer für mehr Wirklichkeitssinn in der evangelischen Friedensethik erscheint mir als sinnvoll.

2. Die evangelische Kirche pflegt seit Jahrzehnten Beziehungen zur russisch-orthodoxen Kirche. Das war nie leicht, aber immer unverzichtbarer Bestandteil einer Versöhnung zwischen Deutschland und Russland. Doch wie soll diese Ökumene weiter gestaltet werden? Der ebenfalls autokratisch herrschende (und von einigen Korruptionsvorwürfen begleitete) Moskauer Patriarch Kirill hat seine Kirche auf das Engste mit dem Putin-Regime verbunden. Angesichts des russischen Angriffskriegs fand er folglich nur zu sehr allgemeinen, rein erbaulichen Äußerungen. An ihnen kann man sehen, wie problematisch und im Grunde geschmacklos kirchliche Leitungsfiguren agieren, wenn sie auf Unrecht und Gewalt lediglich mit pastoralem Kitsch antworten. Müsste man das Gespräch mit ihm nicht aussetzen? Doch gibt es auch andere russisch-orthodoxe Stimmen, nicht nur an der Basis. Das Oberhaupt der russisch-orthodoxen Kirche in der Ukraine, der Kiewer Metropolit Onufirj, hat gesagt, was zu sagen ist: „Herr Putin, ich fordere ein sofortiges Ende dieses Bruderkriegs. Der Krieg zwischen diesen Völkern ist eine Wiederholung der Sünde Kains, der seinen eigenen Bruder aus Eifersucht tötete. Ein solcher Krieg ist nicht zu rechtfertigen, weder vor Gott noch vor den Menschen.“ Natürlich ist mir bewusst, dass es billig ist, von Deutschland aus von Menschen in Russland Zivilcourage einzufordern. Aber wir sollten präziser unterscheiden, wer uns zurzeit als ökumenischer Partner besonders am Herzen liegt. Und das sollten die Ehrlichen, Friedlichen und Machtlosen sein.

3. Viele Kultureinrichtungen überprüfen jetzt ihre Partnerschaften. Das gilt auch für zumindest eine evangelische Kirche, nämlich die Marktkirche zu Hannover. Vor einiger Zeit hatte Gerhard Schröder versprochen, ihr ein großes Fenster seines Künstlerfreundes Markus Lüpertz zu schenken. Die Fragen des Denkmalschutzes sind inzwischen geklärt, das Fenster ist fertig, in Bälde sollte es eingesetzt werden. Zum Verfahren und zur Auswahl dieses Künstlers wäre einiges zu sagen, doch das ist im Moment unwichtig im Vergleich zu der Frage, ob man heute noch ein Geschenk von Herrn Schröder annehmen sollte. Ich denke: Nein! Denn seine enge Verbindung zu Herrn Putin, seine langjähriges prorussisches Lobbying, seine schändlichen öffentlichen Äußerungen und seine weniger als zaghafte Distanzierung in der letzten Zeit machen ihn in meinen Augen unwürdig, einer evangelischen Kirche etwas stiften zu dürfen. Zumindest sollte man den Einbau des Fensters aussetzen, solange russische Truppen in der Ukraine wüten und Herr Schröder keine angemessene Haltung eingenommen hat. Alles andere würden den beeindruckenden Friedensgebeten und -konzerten widersprechen, die in dieser Kirche stattfinden. Am gestrigen Donnerstagabend hat der Kirchenvorstand der Marktkirche noch einmal über dieses vergiftete Geschenk beraten. Am heutigen Freitagmittag soll es eine Pressekonferenz geben.

Zum Schluss aber: Am vergangenen Sonntag habe ich in der Annen-Kirche zu Berlin-Dahlem gepredigt. Jetzt erhalte ich von dort E-Mails über Hilfsaktionen: Kleinbusse sollen beladen werden und an die polnisch-ukrainische Grenze fahren, von dort sollen sie mit Flüchtlingen zurückkommen. Viele Gemeindeglieder haben sich bereit erklärt, sie aufzunehmen. Ähnliches geschieht in vielen Kirchengemeinden und kirchlichen Einrichtungen. Solch ein Engagement ist nichts epochal Neues, es war immer schon gut und christlich.

P.S.: Sehr lesenswert ist das Kriegstagebuch des Übersetzers Juri Durkot aus Lemberg.

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Eine Versöhnung bedeutet eine gegenseitige Einsicht, einer beiderseitigen Schuld. Die kann doch von Kyrill nun wirklich nicht erwartet werden.

Antwort auf von J. Jasmin (nicht registriert)

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Kyrill ist ein Kind des Systems. Er und viele andere dort, reißen nicht den Stuhl von den Füssen. Von dort ist nichts zu erwarten. Was ist von unseren Kirchen zu erwarten? Evangelische Antworten s. u. Ich bin kein Insider, aber von der Katholischen Kirche hört man in den Medien so gut wie nichts. Nichts außer schönen Sprüchen an geweihten Orten. Business as usual. Aber die haben ja auch andere Probleme, die an die Substanz gehen. Und was ist von uns zu hören? Wort der Woche in Chrismon 3/22 von Susanne Breit–Kessler, Landesbischöfin i. R. „Aufgabe des Glaubens ist nicht betuliche Selbstgenügsamkeit, sondern beinharte Weltverantwortlichkeit“.
Wort der Woche In der gleichen Ausgabe von Annette Kurschus (EKD): „Wir sind überzeugt, Waffengewalt wird Leid und Unrecht nur vergrößern. Auch jetzt darf das diplomatische Gespräch mit Russland nicht abreißen“. Sehr überzeugend für den, der nicht angesprochen werden will?
Die erste Antwort ist ehrlich brutal. Die zweite Antwort ist als Schuldbefreiung kaum zu überbieten. Wenn man nichts als hehre Wünsche hat, sollte man die Hilflosigkeit eingestehen. Die ev. Kirche ist weder ein Außenministerium noch warten alle anderen auf einen Rat, den schon so viele vergebens „verloren“ haben. Auch von den Freikirchen, zumindest nicht medienwirksam, keine Reaktionen. Zwischen den obigen Antworten liegen Welten. Dazu von der pfälzischen Kirchenpräsidentin Frau D. Wüst eine ernüchternde Feststellung. Zitat: " ...eine bleibende Herausforderung, dass so viele Menschen der Kirche den Rücken kehren. Offensichtlich wissen viele nicht mehr, was sie bei uns finden können oder haben das Vertrauen in die Institution verloren". Statt dessen schöne Wünsche (AW 2) an Unbelehrbare. Um zu sagen was zu sagen ist.

Antwort auf von Ockenga (nicht registriert)

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In der Tat, ein Punkt treffen Sie. Ich selbst bin mir noch unschlüssig, die christliche Friedensbotschaft darf man nicht einfach in einer Krise beiseitelegen und stattdessen harten Realismus markieren. Aber wenn es angesichts der wirklichen Not harmlos oder gar banal erscheint, muss man wirklich neu nachdenken.

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Herr Claussen, nicht nur eine neue Epoche für die Kirchen. Das Gefüge der globalem Abhängigkeiten und der Rest an Vertrauen, das unbedingt notwendig ist, ist mehr als fraglich geworden. Die Dimension der Nachteile -für Alle!- ist unbeherrschbar. Nicht nur die Energiepreise, auch alle Lebensmittelrohstoffe und die Kunstdüngerpreise "spielen verrückt". Weltweit werden deshalb viele nationale Ernten fraglich. Was ist, wenn Putin keine oder zu wenig Einnahmen hat, um wie bisher die Lebenshaltung zu subventionieren? Und 1,4 Milliarden Chinesen nicht mehr im gleichen Umfang wie bisher, als Werkbank der Welt dienen können? Ein hoher Benzin- und Energiepreis wird zum "Konsumtot". Die Kette der Wechselwirkungen ist endlos. Und hierfür sind alle Religionen nur Begleiter ohne Einfluss. Und so gibt es noch Neuland, das noch nie betreten wurde. Denn die Globalisierung steht auf beiden Seiten und bekämpft sich somit selbst. Diese Kriegsparteienkonstellation hat es noch nie gegeben.

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"unwürdig, einer evangelischen Kirche etwas stiften zu dürfen." Wenn der Herr Schröder Geld übrig hat, kann er es gerne mir überweisen. Ich nehme es ohne Würde- oder Gesinnungsüberprüfung. Insbesondere ohne die Prüfung, ob sein Feindbild genau das von allen anständigen Menschen heute geforderte ist.

Aber interessant ist der Gedanke schon. Da Sie, verehrter Herr Dr. Claussen, zu den wenigen chrismon-Autoren gehören, die auf Leserkommentare inhaltlich eingehen, habe ich Anschlussfragen. Soll die Kirche nur noch Kirchensteuern von denen annehmen, die sich vom aktuellen Staatsfeind Nr. 1 deutlich genug distanzieren? Der Schatzmeister hätte sicherlich nichts Ernsthaftes zu befürchten. Oder genügt beim Kirchensteuerzahler die gewöhnliche Mitmachermoral ohne verschärfte Distanzierungspflichten?

In Kirchenräumen finden bekanntlich auch Musikveranstaltungen statt. Genügt es, geplante Aufführungen von Werken russischer Komponisten einfach zu streichen? Oder ist es besser, die Werke aufzuführen, aber den Dirigenten eine kleine Ansprache halten zu lassen, in der er sich überzeugend von Putin distanziert, bevor er den Taktstock für die düstere Adagio-Einleitung (Takt 1–18), beginnend auf der Subdominante e-Moll, hebt? Muss zusätzlich während der Darbietung die Flagge der Ukraine vor, hinter oder auf dem Altar wehen?

Ich sehe Ihrer Antwort mit Interesse entgegen.

Fritz Kurz

Lieber Herr Kurz, grundsätzlich antworte ich gern auf Lesereaktionen. In diesem Fall ist es mir nicht so leicht. Denn Ihre Fragen sind rein polemisch. Man kann ja einen sinnvollen Gedanken dadurch ins Absurde ziehen, dass man ihn ins Übergroße aufzieht, ihm eine Allgemeingültigkeit zuschreibt, durch die er seinen konkreten Sinn verliert. Doch was ist damit gewonnen?

Antwort auf von Johann Hinrich…

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Es freut mich, dass Sie trotz meiner unerträglichen "reinen Polemik" und den Schwierigkeiten, die Ihnen dadurch beim Antworten entstehen, eine Antwort verfasst haben. Bedauerlicherweise geht es bei der aber um die methodischen Schandtaten eines Herrn Kurz und nicht um den Ukrainekrieg.

Ich versuche noch einmal, zum Thema zu kommen. Das Thema ist, dass Sie Herrn Schröder vorwerfen, sich zu wenig von Herrn Putin abgesetzt zu haben. Wenn ich Sie richtig verstehe, bezeichnen Sie das als einen sinnvollen Gedanken. Bei einem sinnvollen, also einen Zweck verfolgenden Gedanken, sollte man sich genau diesen Zweck klar machen.

In der Ukraine sterben bereits Soldaten und Zivilisten. Die Politik der Machthaber in Washington und Moskau hat zwar nicht das primäre Ziel, dieses Sterben weltweit und nuklear auszuweiten. Sollte es aber die eine oder andere Seite für notwendig erachten, dass sie zur Erreichung ihrer Ziele auf den roten Knopf drückt, dann wird sie das tun. In diesem Punkt besteht völlige Übereinstimmung zwischen Herrn Putin und Herrn Biden. Kein Wunder, beides sind aus Wahlen hervorgegangene Staatsmänner, die sich auf ihre jeweiligen Bevölkerungen verlassen können.

Wer der Feind ist, ist für niemanden ein Geheimnis. In Russland ist der böse Westen der Feind. Im Westen ist der böse Putin der Feind. In dieser Situation soll es also ein schwerwiegender Fehler sein, wenn sich jemand nicht genügend vom Feind distanziert. Das ist Kriegshetze.

Fritz Kurz

Antwort auf von Johann Hinrich…

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Wo bleibt denn Ihre Antwort, werter Herr Kurz? Sie sind doch sonst sehr kommunikationsfähig.

Max Zirom

Kolumne

Johann Hinrich Claussen

Auch das Überflüssige ist lebens­notwendig: Der Autor und Theologe Johann Hinrich Claussen reist durch die Weiten von Kunst und Kultur