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Eigentlich hatte ich gedacht, über Barlach vieles zu wissen und seine Werke gut zu kennen. Ehrlich gesagt, hatte ich mir einiges auch „übergesehen“. Zum Glück hat mich die Ausstellung im Kunsthaus Apolda neu hinschauen lassen. Zum Glück hat mir der Schriftsteller Franz Fühmann den Sinn für diesen Künstler neu geöffnet. In diesem Jahr wird sein 100. Geburtstag von denen, die mit ihm und seinen Bücher vertraut sind, intensiv begangen. Da viele (in Westdeutschland) ihn noch nicht kennen: Fühmann hat viele ideologische Wandlungen durchmachen müssen, katholisch aufgewachsen, als Jugendlicher dem Nationalsozialismus verfallen, nach dem Krieg zum Sozialismus bekehrt, durch den Einmarsch in Prag 1968 erschüttert, wurde er für Büchermenschen in der DDR zu einer Leitfigur – als ehrlicher, ernsthafter, mitfühlender Autor und Mentor.
Ich kannte sein Essay „Meine Bibel. Erfahrungen“ als einzigartiges Meisterwerk. Dann las ich auf dem Weg nach Apolda seine Novelle „Barlach in Güstrow“ von 1968. Darin erzählt Fühmann von einem dunklen Tag im Jahr 1937, kurz nachdem Barlachs berühmter „Schwebender“ von NS-Schergen aus dem Güstrower Dom entfernt worden war. Ein dunkles, tiefes, dichtes Buch, in das auch Fühmanns DDR-Verzweiflung eingeflossen ist. (Das Buch ist antiquarisch für wenige Euro leicht erhältlich.) Hier habe ich Barlach wieder als einen großen Künstler sehen gelernt.
Die wunderbare Literaturzeitschrift „Sinn und Form“ bringt in ihrem aktuellen Heft mehrere hochinteressante Texte zu Fühmann. Besonders habe ich mich darüber gefreut, dort ein Gedicht zu finden, das Fühmann mit 31 Jahren (also 1953/4) über ein Bild von Barlach geschrieben hat. Lesen Sie selbst:
Barlach: Verhüllte Bettlerin
Die Hände hoffnungslos sinkend, offen. Aus Grauem
das Tuch über den Kopf. Viel Schmerz fliesst nieder
über den müden Leib. Sie hat nur die Hände
gegen eine ganze Welt hat sie nur
die Hände zu zeigen.
Diese denn, freilich: Unschön
sind sie, verzerrt. Krümmungen
über der Strasse: hinter ihnen
wächst Tuch und Fleisch und Nacht zusammen
Der Himmel, der ihr überm Haupt ist, zusammen ist geschrumpft,
es ist ein mitleidiger Himmel: Er macht sich klein
dass sie ihn ertragen kann.
Sie hat
die Hände noch offen, als ob
die Welt noch da wäre, wie sie sie wähnt: Barmherzig.
Das Haupt, ich will es enthüllen. Schwer hebt
das Tuch sich
Das Kinn hebt sich spitz. Die fallenden Falten
vom Mund zu ihm hin wie die Bäche vom Berg. Dahinter, nur Tiefe,
die Wangen, und Höhlen: Die Augen.
nun schlägt sie die Hände
zusammen übers Gesicht, und schrecklich nunmehr,
ohne Kunst, steht sie da, alltäglich geworden
sie hat kein transzendentes Leid,
o diese Gemeinheit: Metaphysik
suchen sie, wo sie zu helfen haben.
Die Kunst hat aufzudecken, nicht zuzudecken.
Zeigt, was dahinter ist! Aber sie,
die Erhabnen, sie verhüllen es,
und dann murmeln sie noch: Geheiligt! Geheiligt!
P.S.: Eine "verhüllte Bettlerin" gab es in Apolda nicht zu sehen. Von den vielen Figuren alter, armer Frauen kommt die oben abgebildete Skulptur dem Gedicht aber am nächsten.